Verriegelte Zeit
Entstehungskontext
Beteiligte
Sibylle Schönemann wurde 1953 in Berlin geboren. Nach einem Regiestudium an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam arbeitete sie als Regieassistentin und Dramaturgin im DEFA-Spielfilmstudio. Ihr Mann Hannes und sie stellten 1984 einen Ausreiseantrag. „1984 wurde ich von der Stasi (Staatssicherheit) der DDR verhaftet, verhört, verurteilt, in den Knast gesteckt, im Sommer 1985 in einen Bus gesetzt und über die Grenze in den Westen abgeschoben. Meine alte Heimat hatte mich ausgespuckt, ohne mir die Chance eines Abschieds zu lassen und mir meine Frage nach dem ‚Warum?‘ beantworten zu wollen. Das Leben in Hamburg, in der neuen Heimat, ließ im Laufe der Jahre die quälende Frage verblassen und irgendwann schien es, als seien die damaligen Ereignisse nur noch eine Episode meines Lebens“, schreibt Schönemann im Faltblatt der alert Film GmbH. Mit ihrem Film Verriegelte Zeit wandte sich Schönemann genau dieser Zeit zu und hielt ihre Suche nach dem Warum mit der Kamera fest. Einer ihrer späteren Filme ist die Doku „Diese Tage in Terezin“ (1997).
Verriegelte Zeit wurde koproduziert von der alert Film (unter Alfred Hürmer) und dem DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Dort wird Bernhard Burkhard als Produzent genannt, der in den 1980er Jahren als Produktionsgruppenleiter im Dokumentarfilmstudio arbeitete.
Filminhalt
Zentrale Figuren
Die Filmemacherin Sibylle Schönemann kehrt in die DDR zurück, um Antworten darauf zu finden, warum sie 1984 verhaftet wurde. Ihr Weg führt zurück an die Grenze, wo sie die DDR in einem Bus mit 40 anderen Freigekauften verließ. Von dort aus führt sie die Kamera zu den Stationen ihrer Inhaftierung. Sie kehrt zurück in enge Gänge und Zellen, wo Türen lautstark zugeschlagen werden und besucht den Kirschbaum, den sie vor dem Fenster des Gefängnisses sah. Manche Orte scheinen unverändert, sind in Betrieb. Andere Räume sind indes verweist und lassen nur erahnen, was sich hier abspielte. An vielen der Schauplätze ihrer persönlichen verriegelten Zeit trifft Schönemann auf Menschen, die zu ihrer Inhaftierung und Verurteilung beigetragen haben oder mit dieser in Verbindung standen.
Zentral sind im Film die Begegnungen und Gespräche Schönemanns, die von der Kamera festgehalten werden. Sie spricht mit Verantwortlichen, deren Namen sie aus ihrer Strafgerichtsakte entnommen hat. Sie spürt diese Menschen auf und hakt nach: Erinnern sie sich an mich? Was hat sie veranlasst so zu agieren? Hätte es eine Möglichkeit gegeben, nicht verurteilt zu werden? Mit ruhiger Stimme stellt Schönemann ihre Fragen. Die Antworten, soweit sich die Gesprächspartner darauf einlassen, sind pauschal und oft ein Verweis auf die damalige gesetzliche Richtigkeit ihres Handelns. Schuld, Scham oder Verantwortungsbewusstsein werden nicht sichtbar. Während Schönemann nach Antworten sucht, ist die Gegenseite eher um Vergessen bemüht.
Besonders eindrücklich sind die Gespräche, die Schönemann mit einer Mitgefangenen führt, genannt Punkt. Die beiden lassen die gemeinsamen Erfahrungen Revue passieren, während sie rauchend und mit einer Coca-Cola Dose in einer Zelle auf zwei Pritschen sitzen. Wie kann man das erklären? Eine Frage, die die beiden umtreibt. Wie soll man verständlich machen, wie sich das anfühlt, wenn das eigene Leben hilflos der Kontrolle einer Instanz unterliegt, auf die man keinen Einfluss hat? Wenn man vielleicht nicht einmal weiß, warum genau man in Gewahrsam ist?
Der Film begleitet eine Spurensuche, die auf zwei Zeitebenen Material präsentiert und trotz starker Bilder nicht den Kern der eigentlichen Fragen erreichen kann. Zwar liegt die Akte von Schönemann vor, doch alle Beteiligten beharren darauf, im Recht zu sein – ein Weg abseits dieser Haftstrafe hätte es bei ihrem Tatbestand nicht geben können. Wirkliche Selbstreflektion wird zumindest vor der Kamera nicht sichtbar, stattdessen wird Schönemann und somit auch die Zuschauerin mit einer Fülle an Floskeln, Halbsätzen und Rechtfertigungen konfrontiert. Die Filmemacherin klagt nicht an, wird nicht wütend und lässt somit die Menschen vor der Kamera selbst ein Bild der Verweigerung und des Verdrängens schaffen. Durch Schwarz-Weiß-Aufnahmen und eine geduldige Kameraführung entstehen Spannung, Atmosphäre und Brisanz.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Schönemann hat die Kontrolle über ihren Film. Sie spricht den Kommentar und erzählt ihre eigene Geschichte. Neben den Erinnerungen lässt Schönemann Aktenmaterial sicht- und hörbar werden. Die Kamera zeigt Gebäude und Fahrzeuge, Innen- und Außenansichten. Demonstrativ wird das laute Zufallen der Gefängnistüren hörbar. Dabei geht es Schönemann wohl kaum um ein Nachspielen, als vielmehr um das Gefühl der Beklemmung, das die Aufnahmen auf der Tonspur begleitet.
Sichtbar hebt der Film vor allem die Veränderungen der Schauplätze hervor und wie sich die Filmemacherin nun als freie Person die Räume selbst aneignen kann. Deutlich werden diese Brüche an Schönemanns Arbeitsplatz im Gefängnis, in der Zelle oder am Kirschbaum. Diesen sieht Schönemann nun nicht mehr nur aus der Ferne, sondern kann ihn sogar mit einer Leiter erklimmen – sie ist also nun zum ersten Mal an diesem Ort, der für sie eine wichtige Rolle während ihrer Zeit im Gefängnis spielte.
Vor der Kamera spricht Schönemann mit einigen Personen, die an ihrer Verurteilung beteiligt waren. Doch die Gespräche finden vielfach im Privaten statt, auf der Straße und in Gärten. Sie sind somit bereits weit weg von den Spuren, die Schönemann in den Haftanstalten aufnimmt. Der Film schafft es, authentische Gespräche und Einblicke in eine Phase des Jahres 1990 zu geben, er verfolgt diesen Anspruch aber nicht für die darunterliegende Zeitebene der 1980er Jahre.
Rezeption
Rezensionen
Die Vorführung des Films wurde oft von Diskussionen begleitet, die ihren Weg auch in die Presse gefunden haben. Schönemann selbst gab Anfang der 1990er vor allem regionalen Zeitungen in den neuen Bundesländern mehrere Interviews. Thematisiert wurden dabei meist inhaltliche Aspekte und weniger formale und künstlerische Dimensionen des Films.
Vor allem die Täter-Opfer-Dichotomie im Kontext von Unrecht und Verdrängung standen dabei im Zentrum der Debatten. Diese Diskussion hielt Schönemann für genauso wichtig wie den Film selbst, da es ihr erklärtes Ziel ist, das Unrecht vor dem Vergessen zu bewahren (Berliner Morgenpost, 27. März 1991).
Die Süddeutsche Zeitung (7. November 1991) schrieb über Schönemanns Haltung im Film: „Ihr Blick auf die Menschen, die sie um einen Teil ihres Lebens brachten, ist entlarvend, aber frei von jeder Überheblichkeit. Sie rennt gegen Mauern des Verschweigens – eine doppelt verriegelte Zeit.“ Vielfach wird Schönemanns Film auch in einer Reihe mit weiteren zeitgleichen Auseinandersetzungen mit der Staatssicherheit gesehen. Die Frankfurter Rundschau (7. Oktober 1993) lobte Schönemanns Arbeit: „Sybille [sic!] Schönemann ist mit diesem Dokumentarfilm der bislang beste Bericht über das allgegenwärtige Stasi-System gelungen.“ Auch für grundlegende weltanschauliche Fragen wird Schönemanns Film hinzugezogen. So urteilt die taz (9. September 1991): „Der Film ist das Denkmal eines schlechten Gewissens, das es, wenn mit der sozialistischen Erziehung in der DDR alles seine Richtigkeit gehabt hätte, gar nicht geben dürfte.“
Schönemann schaffe es, „einen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu leisten, der durch seine stille zurückhaltende Form noch lange im Gespräch bleiben wird“, hieß es in der Magdeburger Volksstimme (9. September 1991). Anders hat dies die Märkische Allgemeine (19. März 1991) wahrgenommen. Hier hieß es: „Neue Probleme, die die neue Zeit für so viele mit sich bringt, lassen die Verriegelte Zeit schnell in Vergessenheit geraten. Das ist schade, aber durch diesen Film nicht zu ändern.“
Auszeichnungen
Deutscher Filmpreis 1991, Filmband in Silber
1993 Rheinland-Pfälzischer Filmpreis
1990 Silberne Taube in Leipzig
1991 Créteil: Bester Dokumentarfilm
1991 Yamagata: Großer Preis
Wissenschaftliche Aufarbeitung
Schönemanns Film wird in Überblicksarbeiten zum Thema „Stasi im Film“ behandelt (vgl. exemplarisch Löser 2016, Kötzing 2018) und in eigenständigen Aufsätzen (vgl. Brombach 2018, Turanskyj 2019) oder biografischen Vermerken (vgl. Klauß 2019) gewürdigt.
Erinnerungsdiskurs
Zentrales Element des Films sind Schönemanns persönliche Erlebnisse und ihr Erinnern an ihr letztes Jahr in der DDR und das dort erlebte Unrecht. Schönemann schafft dabei ein Dokument, das über den eigenen Fall hinaus geht. Sie zeigt auf zwei Zeitebenen Bilder eines „Dazwischenseins“, die weder zu einem früheren noch zu einem späteren Zeitpunkt hätten entstehen können. Ihr Film ist damit nicht nur eine Spurensuche der 1980er Jahre, sondern zeigt auch eine Bestandsaufnahme von gesellschaftlichen Mechanismen und Sprachkonstrukten zur Zeit des Drehs. Dadurch schafft sie ein Angebot zur Interpretation und Identifikation, bei dem die Zuschauenden auch Ausschnitte ihres Lebens in der DDR reflektieren können. Der Film lässt sich in seiner Komplexität keinem „Erinnerungsmodell“ zuweisen, sondern trägt auf seine eigene Weise zu einer kritischen mehrdimensionalen Auseinandersetzung mit der DDR bei.
Literatur
Claus Löser: Im Visier des Unsichtbaren. Stasi im Film. In: Bundeszentrale für politische Bildung 2016
Ilka Brombach: Stille Demontage der Macht. Dokumentarfilme über die Staatssicherheit 1990-1992. In: Andreas Kötzing (Hrsg.): Bilder der Allmacht. Die Staatssicherheit in Film und Fernsehen. Göttingen: Wallstein 2018, S. 183-202
Cornelia Klauß: Sibylle Schönemann (geb. Stürzenberger). In: Cornelia Klauß/Ralf Schenk (Hrsg.): Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme. Berlin: Bertz und Fischer 2019, S. 312-318
Andreas Kötzing (Hrsg.): Bilder der Allmacht. Die Staatssicherheit in Film und Fernsehen. Göttingen: Wallstein 2018
Tatjana Turanskyj: Ohn/Machtverhältnisse nach der Wende. Über Sibylle Schönemanns VERRIEGELTE ZEIT (D 1990). In: Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother (Hrsg.): Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen. Berlin: Bertz und Fischer 2019, S. 194-201
Empfohlene Zitierweise