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Peter Hartwig/Pandora Film

Gundermann

Kurzinformationen

Filmdaten

Titel
Gundermann
Erscheinungsjahr
2018
Produktionsland
Originalsprachen
Länge
99 Minuten

Kurzbeschreibung

Der Film beschreibt in Episoden das Leben des ostdeutschen Liedermachers Gerhard Gundermann. Dessen zeitweilige Tätigkeit als Stasi-IM und sein späterer Umgang damit stehen im Vordergrund, verbunden mit seinem vielschichtigen privaten und beruflichen Werdegang als Musiker und Baggerfahrer.

Schlagworte

Entstehungskontext

Beteiligte

Regie

Andreas Dresen zählt zu den profiliertesten ostdeutschen Regisseuren. Als Student an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg lernte er noch in der DDR sein Handwerk. Wie kaum ein anderer behandelte er bereits in früheren Filmen anhand einzelner biographischer Schicksale einfühlsam die Transformationsphase der 1990er Jahre. Schon seine ersten Spielfilme So schnell geht es nach Istanbul (1990) und Stilles Land (1992) thematisierten Einzelschicksale während des Mauerfalls. Seine Romanverfilmung Als wir träumten (2015) betrachtete die Nachwendezeit aus der Sicht einer Jugendclique, die in gewaltsame Auseinandersetzungen gerät. Bekannt sind seine semidokumentarischen Spielfilme mit improvisiert wirkenden Szenen, die unbeholfenen Verlierern der Nachwendezeit nachspürten (Halbe Treppe, 2002). Mit Herr Wichmann von der CDU (2003) folgte er dokumentarisch einem jungen Brandenburger Politiker im Wahlkampf. Gundermann knüpft vom Sujet an diese ernsthaften, aber zugleich oft auch grotesk-komischen Filme an, verbindet aber enger DDR-Geschichte und Transformationszeit.

Drehbuch

Laila Stieler wurde 1965 in Thüringen geboren und studierte zeitgleich mit Dresen Film- und Fernsehdramaturgie an der Film-Hochschule in Potsdam-Babelsberg. Sie erstellte zahlreiche Drehbücher, mehrfach auch für Filme von Andreas Dresen. Bereits bei Stilles Land (1992) war sie die Autorin. Wie Dresen behandelte sie auch Stoffe jenseits der DDR-Vergangenheit, etwa Sexualität im Alter in Wolke 9, wo Dresen ebenfalls Regie führte. In einem Interview heißt es, sie habe gut ein Jahrzehnt am Drehbuchstoff für Gundermann gearbeitet und habe acht Versionen erstellt, bis eine überzeugende Aufbereitung gelang.

Produktion

Dresen betonte in Interviews die Schwierigkeiten, eine Finanzierung für den Film zu finden, da Gundermann als zu abseitige Figur galt. Größere Teile der Filmförderung kamen von der Filmstiftung Nordrhein-Westfalens (700.000 Euro), weshalb er Teile im Ruhrgebiet drehte und die erste Premiere in Essen stattfand. Dies förderte eine gesamtdeutsche Lesart des Films, der im Westen so Aufmerksamkeit erhielt und auch als ein Beitrag zum Niedergang des Bergbaus erschien. Aus NRW stammt auch der Produzent Christoph Friedel von der Pandora Film Produktion in Köln. Weitere Mittel kamen vom Medienboard Berlin-Brandenburg (500.000 Euro) sowie vom Deutschen Filmförderfonds, der Mitteldeutschen Medienförderung, dem BKM und der Filmförderungsanstalt.

Bei der Produktion wirkte die Witwe Gerhard Gundermanns mit, die mit ihrer ebenfalls im Film gezeigten Tochter auch die Premierenfeiern begleitete. Diese Einbindung der Familie verbürgte die Authentizität des Filmes und unterstrich Dresens Anliegen, Ostdeutschen die Hoheit über ihre Biographien zurückzugeben. Hauptdarsteller Alexander Scheer spielte zahlreiche Songs von Gundermann mit verschiedenen Musikern neu ein. Als CD wurde die Filmmusik Teil des Merchandisings. Regisseur Dresen und Hauptdarsteller Scheer spielten die Songs auch live nach Filmvorführungen und auf Konzerten, was zu einem Revival von Gundermanns Werk führte. Filmische, historische und außerfilmische Realität verschwammen durch diese Auftritte ein Stück weit. Flankiert wurde der Film durch ein Buch von Andreas Leusink (2018), das auch Dokumente zur Biographie von Gundermann enthielt.

Filminhalt

Handlung

Der Film spürt dem Leben des Musikers Gerhard Gundermann (1955 bis 1998) nach, der als „singender Baggerfahrer“ in den 1980er und 1990er Jahren Bekanntheit in Ostdeutschland erlangte. Er thematisiert Gundermanns Leben nicht chronologisch, sondern entlang einzelner Episoden, die von den 1990er Jahren aus immer wieder in die DDR springen. Der Film setzt 1992 ein, als Gundermann eine neue Band zusammenstellen will. Bereits die erste Szene unterstreicht den kauzigen und etwas wirren Charakter Gundermanns, der jedoch beim Singen Charisma ausstrahlt und so auch die Zuschauer für sich einnimmt. In einer zweiten Szene konfrontiert ein früherer Freund Gundermann mit dessen IM-Akte. Gundermann betont abwehrend, er könne sich nicht erinnern, was er über ihn berichtet habe. Wie es zu dieser IM-Tätigkeit kam und wie er in den 1990er Jahren mit ihr umgeht, trägt maßgeblich die Filmhandlung. Viele der eingespielten Songs bilden Leitmotive für diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. „Immer wieder wächst das Gras […] bis die Sensen ohne Hass, ihre Kreise ziehen“, heißt es etwa eingangs in einem Lied, das dieses Aufbrechen der nur scheinbar bedeckten Vergangenheit thematisiert.

Der Film wechselt im Folgenden immer wieder von den 1990er Jahren zu Gundermanns DDR-Biographie, um in kurzen Episoden seinen beruflichen, politischen und privaten Lebensweg auszuleuchten. Wie die Filmanalyse von Andreas Kötzing betont, folgen dabei auf Sequenzen zur Stasi-Belastung oft Szenen, die Gundermann als Mensch, Musiker und Sozialist zeigen (Kötzing 2020, S. 130).

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Peter Hartwig/Pandora Film

Gerhard Gundermann (Alexander Scheer, M.),
Veteran (Peter Sodann, r.)
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Peter Hartwig/Pandora Film

Gerhard Gundermann

Dieser Kontrast trägt die gesamte Filmhandlung. Gundermann wird als aneckender Querkopf porträtiert. 1975 fliegt er von der Militärschule, weil er dem Verteidigungsminister kein Ständchen singen will. Er wird als Fahrer der riesigen Braunkohlebagger angelernt und bemüht sich um den Beitritt in die SED, deren Funktionäre skeptisch sind. Gundermann glaubt an den Sozialismus und spottet zugleich offen über die Absurditäten der realsozialistischen Planwirtschaft: Sinnlose Arbeitsnormen, die mangelhafte Arbeitssicherheit im Tagebau und die Doppelmoral von Funktionären in teuren Autos spricht er unverblümt an. Gundermann wird als eine furchtlose Nervensäge und ein grundehrlicher, mitunter naiver Sozialist gezeigt. „Der Genosse hat den Vorteil und Nachteil, dass er ausspricht, was er denkt“, bewertet seine Arbeitskollegin ihn schützend gegenüber Funktionären, als sein Ausschluss droht. Tatsächlich fliegt er gegen seinen Protest 1984 aus der Partei.

Andere Episoden zeigen eher verständnisvoll, wie es zu Gundermanns IM-Tätigkeit kam. Er versucht, durch einen väterlich auftretenden Führungsoffizier angeworben, durch Gespräche Missstände zu verbessern, zum Sozialismus beizutragen und internationale Konzertauftritte für seine Band zu ermöglichen. Die Denunziationen von Gundermann zeigt der Film dagegen nicht und deutet sie nur über den Schulddiskurs der 1990er Jahre an. Dafür verdeutlicht der Film, wie die Staatssicherheit Gundermanns IM-Tätigkeit 1984 beendet, da er auch hier undiplomatisch offen auftritt und so einen Auftrag vermasselt. Dafür wird er nun selbst beobachtet. Damit unterstreicht der Film, wie problematisch es ist, allein anhand einer IM-Akte klare Täter- und Opfer-Zuschreibungen zu machen. Gundermann tritt im Folgenden als Querkopf auf, der für eine Verbesserung des Sozialismus eintritt.

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Conny Gundermann (Anja Unterberger),
Gerhard Gundermann

Episoden aus den 1990er Jahren unterstreichen, dass er den Bürgerrechtlern als Oppositioneller galt. Als er in das Archiv der BStU kommt, suchen die Mitarbeiter seine Opferakten, die jedoch verschwunden sind. Dafür findet der Behörden-Mitarbeiter Gundermanns IM-Akte und beschimpft ihn als „Schwein“. Gundermann gelingt nur eine hilflose Rechtfertigung. Während ein alter Freund auf Gundermanns Geständnis antwortet, er habe umgekehrt Gundermann als IM bespitzelt, stößt er bei anderen auf Abweisung. Als eine Journalistin, eine karriereorientierte frühere Mitläuferin, Gundermann mit seiner Akte konfrontiert, findet Gundermann keine klaren Worte. Er kann und will sich nicht erinnern. Dass Gundermann nicht einfach zu einer deutlichen Entschuldigung und Abbitte findet, sondern ausweicht und zugleich mit seiner Vergangenheit hadert,  erklären die Rückblenden mit seiner vielschichtigen Biographie und seinem Charakter. „Ich werde nicht um Verzeihung bitten, aber mir selbst kann ich das nicht verzeihen“, sagt er. Die folgenden Filmsequenzen umkreisen Gundermanns ambivalentes Verhalten, ohne klare Antworten zu geben.

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Peter Hartwig/Pandora Film

Gerhard Gundermann

Große Teile des Films behandeln zudem Gundermanns kompliziertes Privat- und Liebesleben. Er wird hier als einsame tragische Gestalt eingeführt, die vom Vater verstoßen wurde und in die Ehefrau seines Freundes verliebt ist. Nach langem, unbeholfenem Werben werden sie tatsächlich ein Paar. Die Romanze der DDR-Zeit, die den Alltag im Plattenbau illustriert, steht in Kontrast zu den Konflikten ihres Ehelebens mit Kindern in den 1990er Jahren. Die Kinder muss seine Frau überwiegend alleine versorgen, während er an Songs arbeitet, auftritt und an seiner Vergangenheit verzweifelt. Nachdem er als IM in die Privatsphäre anderer eindrang, behelligen nun Journalisten sein Familienleben. Die Familie droht unter diesen Konflikten zu zerbrechen, wenngleich seine Frau zu ihm hält.

Ebenso fängt der Film den beruflichen Werdegang Gundermanns ein. Auf das Anlernen als Baggerfahrer folgt der Aufbau seiner singenden Brigade Feuerstein. Auch dies steht im Kontrast zu den Sequenzen aus den letzten Jahren seines Lebens. Der Abbau von Arbeitsplätzen im Tagebau führt dazu, dass er nicht mehr als Baggerfahrer arbeiten kann und zum Tischler umschult.

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Peter Hartwig/Pandora Film

Band-Auftritt: Gerhard Gundermann

Vor allem wird die Musikkariere vor und nach 1989 gezeigt. Der Film porträtiert Gundermann als genialen Musiker, der kaum schläft, Alkohol und Fleisch verschmäht und auch nach späten Auftritten frühmorgens in den Bagger steigt. Bei dieser Arbeit spricht er Ideen für seine lyrischen Texte in sein Diktiergerät und pflegt einen kameradschaftlichen Umgang mit den Arbeitskollegen.

Die einst im „Bitterfelder Weg“ von der SED erträumte Kulturarbeit der Arbeiter findet bei ihm eine ideale Umsetzung. Obwohl Gundermann in den 1990er Jahren von den Gagen leben kann, arbeitet er weiter im Tagebau.

Ein filmischer und biographischer Höhepunkt ist Gundermanns Auftritt im Vorprogramm von Bob Dylan. Auch Dylan gegenüber tritt Gundermann frech und unerschrocken auf.  Auf einem Konzert 1995, bei dem Gundermann den Fans seine IM-Zugehörigkeit auf der Bühne beichtet, folgen erst eine enttäuschte Stille und dann verzeihender Applaus. Damit akzeptieren die Fans Gundermann als einen der ihren. Auch seine Band hält trotz der Enthüllung zu ihm. Dagegen verzeiht der frühere Freund aus der Anfangsszene Gundermann nicht.

Ästhetik und Gestaltung

Aussehen, Mimik und Auftreten des realen Gerhard Gundermann werden im Film bis ins Detail möglichst genau nachgebildet. Dieser Realismus, der an ältere dokumentarische Filmaufnahmen von Gundermann aus den 1980er und 1990er Jahren anschließt, unterstreicht einen Anspruch auf Authentizität. Der Film kontrastiert die zahlreichen Widersprüche im Leben Gundermanns und damit auch vieler enttäuschter Sozialisten. Inhaltlich und ästhetisch lebt der Film von Ambivalenzen, die sich nicht aufheben lassen. Gundermann tritt für eine Verbesserung des Sozialismus ein und kritisiert offen und mutig die SED. Seine Opposition gegen die SED geht soweit, dass er den Parteiausschluss nicht akzeptiert. Die Mondlandschaften des Braunkohleabbaus in der Lausitz unterstreichen diese Ambivalenzen: Sie stehen für die Zerstörung von Natur und Städten, aber zugleich ästhetisiert Dresen die weiten Sandwüsten mit opulenten Aufnahmen und verleiht ihnen Schönheit. Gleiches gilt für die gefilmte Anmut der gewaltigen Bagger, die wie im sozialistischen Realismus die Industriearbeit idealisieren. Dies wird jedoch durch Szenen zu Arbeitsunfällen und Produktionsproblemen kontrastiert. Ebenso trifft der naive, aber erfrischende Idealismus auf die kleinbürgerlichen verhärmten Genossen. Das Happy End des Filmes wird durch den Hinweis auf den plötzlichen Tod Gundermanns gebrochen, der 1998 mit nur 43 Jahren nach einem Hirnschlag verstarb.

Rezeption

Reichweite

Den Film sahen laut Filmförderanstalt 384.000 Menschen bis Ende 2019 im Kino. Damit war der Zulauf zwar beachtlich, im Vergleich zur großen Aufmerksamkeit in den Feuilletons aber eher gering. Das Erste zeigte Gundermann am 30. September 2020 zur Primetime (1,57 Millionen Zuschauer, Marktanteil 5,4 Prozent. Für einen Kino-Film auf diesem Sendeplatz ist dies ebenfalls eher wenig, erklärt sich aber durch das parallel im ZDF gesendete Fußballspiel Bayern München gegen Dortmund.

Rezensionen

Der Film fand fast durchweg positive Resonanz in den Medien. Auffällig ist, dass Medien mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung ähnlich urteilten. Die Kritiker lobten besonders den Blick auf Widersprüchlichkeiten in Gundermanns DDR-Leben. So bezeichnete Mathias Dell Gundermann auf Spiegel-Online euphorisch als einen „der reichsten, differenziertesten, tollsten Filme über die DDR“ und lobte neben der inhaltlichen Offenheit Hauptdarsteller Alexander Scheer. Annett Scheffel fand in der Süddeutsche Zeitung gut, dass der Film die Frage nach Täter und Opfer nie ganz beantworte, und Kerstin Decker sprach im Tagesspiegel von einem einfühlsamen Porträt und dem wichtigsten Dresen-Film. Jenni Zylhy hob in der tageszeitung die Vielschichtigkeit hervor und nannte den Film einen „Konversationspartner“ zu der schwierigen Frage, ob man verzeihen könne und ob Mensch und Werk trennbar seien. Für die FAZ war Gundermann ein „schöner, bitterer thüringischer Heimatfilm“, der das Ende der Bergbauära verdeutliche. Von einem „Heimatfilm“ sprach auch Christoph Diekmann in der Zeit. Diekmann hielt sich zwar mit Wertungen zurück, betonte aber die Komplexität des Stoffes und monierte lediglich, dass der improvisierte „semi-dokumentarische Reiz“ früherer Dresen-Filme fehle, da hier alles „fakttreu reproduziert“ werde. Begeistert zeigte sich Gunnar Decker im Neuen Deutschland: Dresen „erklärt die DDR-Geschichte auf eine Weise, die zur Selbsterkenntnis von Ost und West gleichermaßen führen könnte – jenseits aller Rechthaberei.“

Auch die Geschichtswissenschaft reagierte positiv. Andreas Kötzing (2020, S. 19) sah Gundermann als gelungenen Versuch, „eine Versöhnung innerhalb der zerklüfteten Erinnerungslandschaften“ zu schaffen, und Thomas Meyer lobte auf Zeitgeschichte Online: Die „Ambivalenz Gundermanns bietet Anknüpfungspunkte für Debatten um die Stasi und ihre Aufarbeitung, den wirtschaftlichen und politischen Umgang mit der DDR in den Nachwendejahren.“

Auszeichnungen

Über positive Kritiken hinaus erhielt der Film zahlreiche Preise. Vor allem bekam er sechs Auszeichnungen beim „Deutschen Filmpreis 2019“, unter anderem in den Hauptkategorien Bester Spielfilm, Beste Regie und Bester Hauptdarsteller.

Erinnerungsdiskurs

Der Film bricht mit den populären Darstellungen der DDR im Spielfilm, die sie als Repressionsstaat oder als groteske Herrschaft der Gerontokratie zeigen. So ist Gundermann als eine Antwort auf den oskarprämierten Film Das Leben der Anderen (2006) zu verstehen, den Dresen explizit als Vereinfachung kritisierte. Gundermann unterstreicht, dass die im Erinnerungsdiskurs zentrale Figur des Stasi-IM differenziert zu bewerten sei, selbst wenn Freunde bespitzelt wurden.

Der Film entstand Mitte der 2010er Jahre in einer Phase, in der es zu einer gewissen Neubewertung ostdeutscher Biographien kam: Statt einfacher Opfer-Täter-Zuschreibungen rückte nun die individuelle Anerkennung von Lebensleistungen in den Vordergrund. Wie Andreas Kötzing (2020, S. 138) unterstrich, weise dieser „Versöhnungsfilm“ darauf hin, dass niemand nur IM gewesen sei, sondern man immer die gesamte Persönlichkeit in ihrer Vielschichtigkeit bewerten müsse. In diesem Sinne lässt sich der Film als ein Plädoyer für eine offene Betrachtung von IM-Tätigkeiten verstehen. Innovativ ist der Film, weil er die Erinnerung an die DDR mit dem Umgang mit der Erinnerung in den 1990er Jahren verbindet. Damit passt er zu dem Trend in Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur, die Gesellschaft der späten DDR mit den Problemen der Transformationsphase der DDR zu verbinden. Der Film verhandelt den Umgang mit Schuld: Er zeigt, wie eine individuelle Versöhnung angesichts der IM-Akten misslingt, aber der offene Umgang damit auch neue Anerkennung ermöglicht.

Ein Schlüsselthema des Films ist die Schwierigkeit, ostdeutsche Biographien zu bewerten. In einer Songzeile von Gundermann heißt es: „Ich hab keine Zeit mehr/Ich nehm den Handschuh auf/Ich laufe um mein Leben und gegen/Den Lebenslauf“. Dies umschreibt die Grundfrage, wie Menschen nach 1989 ihre Biographie neu erfanden und tatsächlich an die eigene Unschuld in der SED-Diktatur glaubten, bis sie mit IM-Akten und anderen Belastungszeugnissen konfrontiert wurden. Damit verhandelt der Film das Spannungsverhältnis zwischen der biographischen Selbst- und Fremdzuschreibung. Er kontrastiert die weichgezeichneten Erinnerungen mit dem vielschichtigen Verhalten in der DDR, das bei der gleichen Person von Idealismus bis Verrat reichen konnte. „Ich guck einfach so lange in den Spiegel, bis ich mir mein Leben glaube“, sagt Gundermann in einer Szene zu dieser biographischen Verunsicherung.

In der gegenwärtigen Debatte kritisieren viele, dass westdeutsche Eliten sowohl die Schlüsselpositionen im Osten als auch die Deutung der ostdeutschen Vergangenheit übernommen hätten. Auch erfolgreiche Filme zur DDR, wie besonders Das Leben der Anderen (2006), stammten von westdeutschen Regisseuren. Der Film versteht sich als ein Beitrag zu dieser Debatte: Andreas Dresen betonte immer wieder, dass es ihm auch um die Rückeroberung der ostdeutschen Deutungshoheit über Biographien gehe, die differenziert ausfallen müsse.

Die individuelle und kollektive Erinnerung wird stark durch die Musik und Popkultur geformt. Diese sind in West- und Ostdeutschland weiterhin stark getrennt: Viele Musiker, Filme oder Stars, die im Osten berühmt sind, kennt im Westen kaum jemand (etwa: Silly, die Puhdys oder Keimzeit). Das gilt auch für den Musiker Gundermann. Der Held des Films wurde deshalb als „Paradebeispiel der doppeldeutschen Öffentlichkeit“ (Christoph Diekmann, Die ZEIT) bewertet. Der auch in Westdeutschland vielbeachtete Film trug dazu bei, dies wiederum zu ändern. Zugleich sorgte er für eine Neuentdeckung der Musik von Gundermann im Osten. Denn viele, die ihn zwar kannten, aber als DDR-Liedermacher zugunsten westlicher Musik verschmähten, entdeckten ihn neu als eine ostdeutsche lyrische Stimme.

Dabei bietet der Film, was Rezensionen nie vermerkten, vielschichtige Ansätze für eine Auseinandersetzung mit der „Ostalgie“. Gundermanns neuer Erfolg Mitte der 1990er Jahre steht für das Revival des „Ostrocks“ und von anderen Überbleibseln aus der DDR, die viele nach dem stürmischen Erfolg von Westprodukten 1990 kaum erwartet hatten. Ähnlich wie Silly oder die Puhdys erinnerten seine Songs, sein Auftreten und seine Biographie viele Ostdeutsche positiv an die Vergangenheit und stärkte die ostdeutsche Identitätsbildung (Bösch 2020).

Literatur

Frank Bösch: Ostdeutsche Medien im gesellschaftlichen Wandel. Presse, Musikkultur und regionale Identität nach 1990. In: Jahrbuch Deutsche Einheit 2020. Berlin: Ch. Links 2020, S. 333-349

Andreas Kötzing: „Gundermann als Versöhnungsfilm“. Oder: Wer einen Igel rettet, kann kein schlechter Mensch sein. In: WerkstattGeschichte 82 (2020), S. 129-141.

Andreas Leusing: Gundermann. Von jedem Tag will ich was haben, was ich nicht vergesse ... Briefe, Dokumente, Interviews, Erinnerungen. Berlin: Ch. Links 2018

Thomas Meyer: „Gundermann“ und die Rückeroberung der Deutungshoheit . …, oder warum der neue Film von Andreas Dresen so erfolgreich ist. In: Zeitgeschichte Online, September 2018

Empfohlene Zitierweise

Gundermann. In: Daria Gordeeva, Michael Meyen (Hrsg.): DDR im Film 2024, https://ddr-im-film.de/index.php/de/film/gundermann