Hunger auf Leben
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Wissenschaftliche Aufarbeitung
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung der Autorin
- Literatur
Entstehungskontext
Beteiligte
Der Schweizer Grimme-Preisträger Markus Imboden wurde 1955 geboren und studierte nach einer Elektroniker-Ausbildung Germanistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet bei seinen Filmproduktionen, so auch bei Hunger auf Leben, häufig mit seiner Lebenspartnerin Martina Gedeck zusammen – etwa in Ins Leben zurück (2003), Auf ewig und einen Tag (2006) oder in Am Hang (2013). Ferner führte er bei einigen Tatort-Folgen und Krimis wie Der Mörder ist unter uns (2003) oder Mörder auf Amrum (2009) Regie. Die Verfilmung von Schicksalen interessiert ihn besonders. Beispiele sind Der Verdingbub (2011) und Die Leibwächterin (2005). Brigitte Reimann bewundere er für „ihre Unerbittlichkeit“ und „in ihrem direkten Sein“. Diese Schriftstellerin versteckte sich nicht und sei „impulsiv, voller Kraft, voller Leben, voller Widersprüche auch, voll Zweifel“ gewesen. Als Schweizer hat er sich erst für den Film Hunger auf Leben intensiver mit der DDR auseinandergesetzt. Im DVD-Bonusinterview erinnert sich Imboden an einen Besuch im Osten Berlins sowie an ausgestorbene Straßen und Mangel: „Es war sehr unheimlich, weil keiner auf der Straße war. Alles war ganz merkwürdig, keine Reklame. Es war auch tatsächlich so, dass ich Hunger hatte und es das, was ich essen wollte, nicht gab.“
Scarlett Kleint und Inès Keerl sind zwei erfahrene TV-Autorinnen. Kleint schrieb nach ihrer Arbeit an Hunger auf Leben für zwei weitere Filmprojekte mit DDR-Bezug, nämlich 12 heißt: Ich liebe dich (2008) und Der Mauerschütze (2010). Auch als Romanautorin beschäftigte sie sich mit der Ost-West-Thematik, zum Beispiel in „Verliebt. Verlobt. Verheiratet. Liebesgeschichten zwischen Ost und West“ (1993) und „Starke Frauen kommen aus dem Osten“ (1995). Regisseur Markus Imboden beschreibt die Arbeit am Drehbuch von Hunger auf Leben im DVD-Bonusinterview als „Kampf“ und „Politikum“: „Wie zeigt man die DDR? Wen soll/darf man denunzieren? Was darf man sagen?“ Der MDR wünschte sich offenbar einen einfachen, eingängigen Film, in dem Reimann ausgelassen auf der Straße tanzen sollte. Das erste Drehbuch sei dementsprechend trivialisierend gewesen: „Es war wenig Sorgfalt der eigenen Vergangenheit gegenüber vorhanden.“ Insbesondere bei der „Stasiszene“ habe es „ellenlange Drehbuch-Diskussionen“ gegeben, da der Sender davon ausging, Reimann habe in ihren Tagebüchern aus Angst vor Spionage nicht die Wahrheit über die Vorkommnisse berichtet. Imboden und seine Drehbuchautorinnen hingegen plädierten augenscheinlich für eine weitgehend vorlagentreue filmische Umsetzung.
Hunger auf Leben entstand nach Brigitte Reimanns Tagebüchern „Ich bedaure nichts“ aus den Jahren 1955 bis 1963 und „Alles schmeckt nach Abschied“ von 1964 bis 1970, die zum Entstehungszeitpunkt des Films bereits in mehrfacher Auflage publiziert worden waren. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bezeichnete die Tagebücher als „eigenständigen Roman“ und als das „vielleicht wichtigste Stück DDR-Literatur überhaupt“ (Volksstimme).
Hunger auf Leben wurde von der Saxonia Media Filmproduktion GmbH aus Leipzig unter der Leitung von Jutta Reuter und Sven Sund produziert. Der damalige Geschäftsführer der Saxonia Media, Hans-Werner Honert, wuchs in einem Dorf bei Leipzig auf, weshalb seine Sensibilität für das, „was in der DDR gut und schlecht war“, groß sei (Christopher Keil, Süddeutsche Zeitung vom 17. Juni 2004, S. 17). Honert habe in der DDR eine „tadellose Laufbahn“ vorzuweisen gehabt: „erste Lyrikveröffentlichungen nach dem Abitur, Studium am Institut für Kinematografie, Auslandserfahrung (Moskau), Regisseur beim Deutschen Fernsehfunk bis 1990“. Im Film Tage des Sturms (2003) erinnert er ein Jahr vor Hunger auf Leben an den Volksaufstand von 1953. Bei seinen Produktionen mit DDR-Bezug, so vermutete es zumindest Christopher Keil, scheint er stets aufzupassen, „dass keine ideologischen Lehrfilme entstehen“ – ein Anspruch, den auch der MDR teilte. Der für Hunger auf Leben verantwortliche Redakteur Karl-Heinz Staamann äußerte die Hoffnung, dass Filme wie dieser nicht im „Es war einmal“ verharren, sondern der „Delegitimierung ostdeutscher Geschichte“ entgegenwirken (Nikolaus von Festenberg, Der Spiegel).
Details zur Finanzierung von Hunger auf Leben wurden nicht veröffentlicht.
Hunger auf Leben wurde 2004 zum 70. Geburtstag von Brigitte Reimann produziert. Ein Jahr zuvor hatte der Aufbau-Verlag die Autorin zu ihrem 30. Todestag mit einer Neuedition des Romans „Franziska Linkerhand“ ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Im Vorfeld der Erstausstrahlung gab es jenseits der üblichen TV-Teaser keine nennenswerte Werbekampagne. Das Buch zum Film aus dem Aufbau-Verlag (2004) versammelt ergänzend zum Film eine Auswahl der bewegendsten Tagebucheinträge von 1955 bis 1970. Das Interesse an Brigitte Reimann wird seit 2004 wachgehalten. So las Martina Gedeck unter anderem im Deutschen Theater aus den Tagebüchern der Schriftstellerin (taz). Die Brigitte-Reimann-Gesellschaft füllte für eine Filmvorführung im Burg-Theater einen Kinosaal mit 150 Menschen (Volksstimme), und das Filmmuseum Potsdam lud mit der Initiative „Metropolar“ und einer Filmvorführung zur “Auseinandersetzung mit der Ostmoderne“ ein. 2018 erschien der Briefwechsel von Wolfgang Schreyer und Brigitte Reimann im Okapi-Verlag, versehen mit einem ausführlichen Nachwort der Herausgeber Carsten Gansel und Kristina Stella.
Filminhalt
Handlung
1955 lebt die 22-jährige Brigitte Reimann in Burg mit ihren Eltern, ihrem Bruder Lutz und ihrem Mann Günter. Immer wieder entflieht sie der Enge des Kleinstadt-Ehelebens durch amouröse Eskapaden. Im Schriftstellerheim „Alexander Puschkin“ in Magdeburg verbringt sie dann auch eine Liebesnacht mit ihrem Lektor Jochen Hensel vom Verlag Neues Leben. Nachdem Günter im Eifersuchtswahn eine Polizeistreife beleidigt und eine Gefängnisstrafe erhalten hat, hat Reimann eine Fehlgeburt und unternimmt einen Suizidversuch. 1956 veröffentlicht sie ihren Erstling „Die Frau am Pranger“. Bei einer Signierstunde wirbt Stasi-Major Zürner sie mit dem Versprechen, Günter aus dem Gefängnis zu holen, als inoffizielle Mitarbeiterin an. Reimann denunziert jedoch niemanden. Es entwickelt sich eine Liebesbeziehung zu dem schwermütigen Schriftsteller Siegfried Pitschmann, „Daniel“. Die beiden ziehen nach Hoyerswerda, um das Arbeiterleben kennenzulernen und einen Zirkel Schreibender Arbeiter zu gründen. Desillusioniert von der Borniertheit der Parteifunktionäre, die Literatur „auf Linie“ fordern, beendet Reimann ihre Zusammenarbeit mit der Stasi. Bei ihrer Dekonspiration wird sie beinahe aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Auch Pitschmann und Lektor Hensel fallen in Ungnade. Reimann hingegen scheint zur Vorzeigedichterin zu avancieren, für ihren Roman „Ankunft im Alltag“ erhält sie den FDGB-Literaturpreis. Nach der Preisverleihung fordert Walter Ulbricht sie auf, endlich in die Partei einzutreten, was sie jedoch unterlässt. Die Staatssicherheit setzt daraufhin den Arbeiter Hans Kerschek, „Jon“, auf Reimann an. Mit ihm entwickelt sich zunächst eine Dreiecksbeziehung, bis Pitschmann sie verlässt. Ihr Bruder Lutz ist einstweilen in den Westen gezogen, was sie ihm übelnimmt. 1973 stirbt Reimann im Alter von 39 Jahren in Neubrandenburg an Brustkrebs, ohne ihren letzten Roman „Franziska Linkerhand“, in dem es um die Plattenbau-Architektur geht, beendet zu haben.
Zentrale Figuren
Brigitte Reimann (Martina Gedeck) ist eine lebenshungrige Frau, die in Widersprüchen gefangen ist (TV Spielfilm). Es quält sie die Unvereinbarkeit von Utopie und Wirklichkeit (Die Welt). Ständig stößt sie an die Grenzen des Systems, an das sie glaubt, dauernd kämpft sie um ihre Unabhängigkeit und kann doch ohne Männer nicht leben. Sie feiert ihre Eigenständigkeit und ist doch immer erpicht auf Bindung, „eine Nestsüchtige und Nestflüchterin zugleich“ (Die Welt). Ihr kurzes, heftiges, tragisch-exzessives Dasein ist geprägt von unbedingter Lebenslust, wilder Leidenschaft und Arbeitswut. Sie ist „Paradiesvogel und Alltagsweib“ (Die Welt), eine „Lebensanarchistin“ (Moviepilot), die permanent versucht, sich über politische Zwänge (Der Spiegel) und gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen. Ihr unangepasster Lebensstil (Beziehungen zu zwei Männern gleichzeitig, mehrere Scheidungen, wildes Eheleben) hilft ihr über die „Banalitäten und Absurditäten“ hinweg, mit denen sich „jeder DDR-Bürger herumschlagen“ muss (Moviepilot). Sie lässt sich nicht von der Stasi einspannen, nicht „stumm stellen“ (Martina Gedeck, Die Zeit) oder bestechen („Ich zahl selber“, Reimann). Andererseits ist sie auch Staatsschriftstellerin, „dem System trotz Ausgeliefertsein verbunden“ (ARD). Im Film erhält sie einen FDGB-Preis und nimmt die Annehmlichkeiten des Schriftstellerheims sowie die Privilegien in Hoyerswerda an. Offensichtlich genießt sie Anerkennung (ARD). Martina Gedeck, die sich für ihre Rolle intensiv mit Reimann beschäftigte, hat dafür eine Erklärung: „Reimann hatte erlebt, wie das Dritte Reich unterging. Wie die DDR gegründet wurde, geradezu als Gegenentwurf.
Als junge Frau glaubte sie an die DDR, sie wollte helfen, eine neue Gesellschaft aufzubauen“ (Die Zeit). Reimann liebt ihr Land und seine Menschen, befindet sich auch im Film stets im Austausch mit ihnen. Der einzige Mensch, der ihr allerdings wirklich entspricht, ist der Schriftsteller Siegfried Pitschmann: „Es ist, als sei er ein Stück von mir. Ein böser, trauriger Teil meiner kranken Seele.“ Aber Pitschmann ist nur einer von vielen Männern in ihrem Leben: Im Kampf gegen Ignoranz und Reglementierung kompensiert Reimann das Gefühl der geistigen Enge durch zahlreiche Liebschaften. Ihr großes Liebesvermögen und ihre direkte Art ohne jedes Zaudern führen sie dabei schnell in Verstrickungen (Neues Deutschland). Mit den Mitteln der „inneren Aufrichtigkeit“ erreicht sie „erotische Souveränität“ (Der Spiegel): „Sie schreibt wie im Rausch, sie liebt und hasst bedingungslos, trinkt Unmengen, raucht ständig“ (Neues Deutschland). So exzessiv wie ihr Liebesleben gestaltet sich auch ihre Arbeit. Wenn Jon ihr im Film vorwirft, sie habe nur Chaos an der Stelle, wo andere ihre Moral haben, muss man als Zuschauer denken: Es ist ein „produktives Chaos, jenseits aller Konventionen“ (Neues Deutschland). Getrieben von Liebe und Zorn und der Utopie von einer besseren Welt (Moviepilot) gelingt es ihr laut Lektor Hensel „mit links“, lebendige Figuren zu erschaffen. Der Titel ihres Buches „Ankunft im Alltag“ (1961) legt einen weiteren Widerspruch frei: „Alltäglich sollte er gerade nicht sein, ihr Alltag. Und immer ohne Ankunft“ (Neues Deutschland). Dass Reimann schon zu Lebzeiten eine Symbolfigur wurde, resultiert auch aus zahlreichen Schicksalsschlägen – ohne schmerzlich überlebte Tode keine Kunst. „Leidenschaft bis zur Selbstvernichtung, dazu schwerste Krankheit, Kindsverlust, das war das Gift für das ‚Stirb und Werde‘ dieser starken, unverschämten und gebrechlichen Frau“ (Die Welt). Letztlich blieb sie trotz zweier Tagebücher ein Geheimnis (Martina Gedeck, Der Tagesspiegel). Reimann: „An mein Innerstes lasse ich keinen heran, ich will nicht, dass ein anderer mich besitzt“ („Ich bedaure nichts“).
Gesellschaftsbild
Vor allem in Streitgesprächen zwischen Reimann und ihrem Bruder Lutz wird deutlich, dass Enge und Eingeschränktheit das Leben in der jungen DDR bestimmen („Ich ersticke hier!“, Lutz). Lutz fühlt sich vom Staat vor allem beruflich bevormundet: „Um Schiffbauer zu sein, brauch ich kein Parteibuch.“ Außerdem kann er seine Ambitionen aufgrund der Planwirtschaft nicht durchsetzen: „Wozu haben wir denn studiert? Damit uns bei jeder Idee gesagt wird: Das haben wir nicht, da haben wir kein Geld für, das können wir nicht, das brauchen wir nicht?“ Außerdem auffällig ist die Kleingeistigkeit nicht nur der neugierigen Nachbarn in Burg, sondern auch der Parteieliten. Reimann wird kritisch beäugt, unter anderen von der zweifachen Nationalpreisträgerin Hella Zwillich: „Die hat einen unverschämten Blick.“ Sie ahnt bereits die Unruhe, die von der jungen Frau ausgehen wird – „erotisch, politisch, künstlerisch“ (Neues Deutschland). Reimann selbst, den Menschen sonst so zugewandt, ist im Verlauf des Films zunehmend frustriert von der Angepasstheit und Kleinkariertheit der Deutschen, „dem Kleinmut des Alltags und der kollektiven Feigheit“ (Christopher Keil, Süddeutsche Zeitung vom 17. Juni 2004, S. 17): „Manchmal hasse ich das ganze deutsche Pack. Dieses Volk von Kriechern und Mitläufern. Leute, die immer nur das taten, was man ihnen von oben befahl.“
Dennoch fühlt sich Reimann dem antifaschistischen Gesellschaftsbild der DDR verpflichtet, weshalb sie auch die Liaison mit der Staatssicherheit eingeht. „Der Film spielt mit beiden Elementen, dem Temperament Reimanns und dem Gefühl der Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber“ (Nowroth 2012, S. 127). Die Flucht des Bruders, des „verdammten Feiglings“, sieht sie als Verrat und verlangt „Achtung für unseren Staat“: „Wieso beschimpfst du eigentlich den Staat, der dir dein Studium bezahlt hat?“ Allerdings hegt auch Reimann zunehmend Zweifel an der Stasi-Überwachung: „Wieso misstraut ihr denen, die dieses Land lieben, die es aufbauen wollen? Was soll denn aus so einem Land werden?“
Anders als in vielen Filmen mit DDR-Bezug wird Westdeutschland in Hunger auf Leben nicht als bunte Kontrastfolie verwendet, vielmehr werden die Gemeinsamkeiten der „zwei Deutschland“ (Reimann) betont, indem sie ironisch gegenübergestellt werden. Lutz bringt aus dem Westen Südfrüchte und Haushaltswaren mit, was seine Mutter trocken mit „Als wären wir kurz vorm Verhungern…“ kommentiert. Auf Lutz’ Behauptung „Drüben hält mir keiner den Mund zu“, entgegnet Reimann: „Die KPD haben sie verboten, das hast du wohl vergessen.“ Dass diese zwei Länder so unterschiedlich nicht sind, wird besonders deutlich, als sich Reimann und Lutz über ihre Autos unterhalten. Er fragt: „Wie verdient man sich solche Privilegien?“, sie antwortet: „Ich habe dafür gearbeitet. Du etwa nicht?“ Lutz ist für Reimann ein „Verräter“, sie für ihn eine „Staatsdichterin“.
Reimanns Stasi-Mitarbeit wird auch von ihren Künstlerkollegen negativ aufgenommen, für Pitschmann ist es „eine Sauerei“. Dabei ist ihr Pflichtgefühl aufgrund des „Eliteanspruchs der Schriftsteller im Arbeiter-und-Bauern-Staat“ (Der Spiegel) für das Publikum nachvollziehbar. Das System päppelt und gängelt seine Schriftsteller gleichermaßen, stets in dem Bewusstsein, dass sie gebraucht werden, „um jeden Preis“ (Kulturfunktionär Zwillich). Die Privilegien, die Künstler genießen, reichen von der Einführung in die „Ständegesellschaft“ (Der Spiegel) des VEB Elfenbeinturm im Schriftstellerheim über Neubauwohnungen bis hin zu Ruhm und Ehre. In dem Maße, in dem die DDR „nach Propagandisten an der Kunstfront lechzt“ (Die Welt), kontrolliert sie auch „die Schreiberei gerade der Jungen auf Schritt und Tritt“ (Der Spiegel). In den Reihen der Schriftsteller regt sich in Hunger auf Leben erheblicher Widerstand. Der West-Zigaretten-rauchende Jochen Hensel rät Reimann, bloß nie linientreu zu schreiben und veröffentlicht Texte über Zensur und freies Wort im Westen. Pitschmann weigert sich, die Rolle der Partei in seinen Werken zu würdigen. Und auch Reimann gerät zunehmend in Widerstreit mit den Kulturfunktionären: „Alles, was ich vorher geschrieben hab, war Schrott. Angepasstes Zeug. Ich mache keine Kompromisse mehr.“ Die Folgen sind für alle weitreichend: Hensel wird wegen staatsfeindlicher Hetze und Landesverrat verhaftet, beruflich degradiert und endet als resignierter Ratgeber-Lektor. Reimanns Hörspiel kommt mit einem ‚Aber‘ vom Rundfunk zurück. Doch sie hat nach eigener Aussage immer noch „eine größere Chance davonzukommen“ als Pitschmann, der in ihrem Schatten keine Zeile mehr schreiben kann und dessen Werke vom Aufbau-Verlag nicht veröffentlicht werden. Zu dekadent und morbide. Er schildere „kleinbürgerliche Wehwehchen“. Solche wohl, die sowohl Reimann als auch Pitschmann in Suizidversuche trieben. Der Zuschauer sieht die Narben an ihren Handgelenken.
Die DDR-Schriftsteller stehen vor einem weiteren Problem: „Woher bei so viel fürsorglicher Belagerung durch die Ideologie das für die Kunst so wichtige ‚Stirb und Werde‘ nehmen?“ (Der Spiegel). Reimann und Pitschmann probieren dies über den Bitterfelder Weg nach Ulbrichts Doktrin, sie versuchen also, der sozialistischen Wirklichkeit über körperliche Arbeit in einem Betrieb und engen Kontakt zum Arbeitervolk näherzukommen. Die Spurensuche in der „ersten sozialistischen Stadt“ Hoyerswerda gerät allerdings beiden von 1960 an zur realsozialistischen Desillusionierung (ARD). Gleich bei ihrer Ankunft treffen sie auf bornierte Funktionäre von der Partei- und Gewerkschaftsleitung, die nichts anderes im Sinn haben, als die beiden durch das „volle Leben an der Basis“ „wieder auf Linie zu bringen“. Selbst im Zirkel Schreibender Arbeiter ist die Parteiideologie omnipräsent. Der arrogante Volkskorrespondent verlässt gar den Raum, als er erfährt, dass Reimann keine Genossin ist. Lediglich Jon bezeichnet die Schriften der Arbeiter als „Parteigeschwafel, hohles Zeug“. Er kritisiert auch den Grundgedanken des „künstlerischen Volksschaffens“ der DDR: „Warum muss eigentlich jeder Arbeiter neuerdings Gedichte schreiben? Die schöne Menschengemeinschaft erstürmt die Gipfel der Kultur und am Ende haben wir eine schöne Einheitssoße.“
Die Plattenbau-Architektur, die Reimann in ihrem Roman „Franziska Linkerhand“ thematisiert, wird filmisch durch einen Besuch beim Stadtarchitekten angerissen. Die Bauplanung geht laut Reimann an den Interessen der Bewohner vorbei, die Wohnungen seien wie „Bienenwaben“ in einer „Stadt ohne Gesicht, ohne Tradition und Atmosphäre“. Der Stadtarchitekt erklärt daraufhin seine Weisung, möglichst billig und schnell zu bauen, und muss zugeben, dass es im Schnitt zwei Suizidfälle pro Woche in seiner Musterstadt gibt. An der Planwirtschaft leidet im Film nicht nur die Architektur, sondern auch die Einrichtung der Wohnungen: Pitschmann hat die Dusche, die eigentlich woanders eingeplant war, gegen Dichtungsmuffen für die Heizung eingetauscht, er nennt es „Materialbeschaffung à la DDR“. Auch die beiden Schriftsteller selbst erfüllen ganz nach Plan und Bedarf spezielle Funktionen in der Schwarzen Pumpe, sie führen das Brigadetagebuch und die Betriebschronik.
Die Lebensqualität in Hoyerswerda steht der Verheißung von sozialer Sicherheit gegenüber, die dem traditionellen DDR-Arbeitermilieu neben Geselligkeit, Harmonie, Toleranz und Fairness am wichtigsten ist (vgl. Hoffmann 2010). Das Spannungsverhältnis zwischen Lebenswelt und Sicherheit drückt sich darin aus, dass Hoyerswerda sowohl die höchste Geburtenrate als auch die höchste Suizidrate der DDR hat. Jon, der pessimistische Antagonist, kommentiert das lakonisch mit den Worten: „Ja, man kann hier schlafen, essen, ficken oder sich vor Langeweile umbringen.“ Reimann übernimmt seine „negative und nihilistische Attitüde“ im Verlauf der Handlung mehr und mehr (Nowroth 2012, S. 131). Sie fragt sich frustriert, ob denn „hier“ wirklich „alles Scheiße ist“, ob es „keine glücklichen Menschen gibt“. Da liefert man ihr ein Beispiel für einen glücklichen Menschen: Paul, der bei den Nazis im Irrenhaus groß wurde und nun über Geld, ein eigenes Zimmer und ein Bett verfügt. In dieser Szene blitzt wieder Reimanns Glaube an das antifaschistische Gesellschaftsbild der DDR auf. Sie schöpft bald noch mehr Hoffnung, als die Brigade nach der Veröffentlichung ihres Hörspiels zum Gratulieren kommt – Zusammenhalt und Kameradschaft sind groß. Doch der Parteileitung gefällt das Hörspiel nicht. Künftig wird zensiert, „in eurem eigenen Interesse“.
Ästhetik und Gestaltung
Die Kamera (Hans Grimmelmann) passt sich Reimanns Ruhelosigkeit an. Sie schweift umher, taxiert Menschen in Nahaufnahmen. Die Schnitte (Ursula Höf) sind mitunter abrupt, was gut zu den vielen Höhen und Tiefen, Exzessen und Abstürzen dieses kurzen, intensiven Lebens passt. Die Musik (Annette Focks) ist fröhlich und beschwingt, als sich Reimann zu Beginn ihrer Karriere ins Schriftstellerheim aufmacht. Die Rock-Musik vom Klassenfeind wird allerdings schnell durch das russische Lied „Schwarze Augen“ ersetzt. Fortan dominiert melancholischer Jazz. Architektur und Inneneinrich tung sind DDR-typisch: heruntergekommene Mietshäuser, graue Plattenbauriesen, senfgelbe Tapeten, karierte Vorhänge. Während im Schriftstellerheim, in Burg und in Neubrandenburg eine ländliche Idylle mit vielen Blumen und Farben gezeigt wird, sind die Wohnungen in Hoyerswerda karg und voller Propaganda. Gekleidet ist Reimann auffallend bunt.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Die wohl wirksamste Strategie der Authentizitätskonstruktion bilden die aus dem Off gesprochenen Original-Tagebucheinträge von Brigitte Reimann, die den Film „nicht nur pointiert durchziehen, sondern auch völlig umschließen“ (Nowroth 2012, S. 123). Außerdem werden Requisiten eingesetzt, um die Lebenswelt der frühen DDR möglichst detailgenau abzubilden. Rote Propaganda-Banner an jeder Ecke („Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“) sind dabei am auffälligsten, aber auch Kleinigkeiten wie die Zeitung „Volksstimme“, das Werbeplakat für die Friedensfahrt oder die allgegenwärtigen Wodkaflaschen fallen ins Auge. Martina Gedeck betonte in einem Interview außerdem, dass sich die Filmemacher an der Tagebuchvorlage orientiert und überspitzte Darstellungen vermieden haben: „Wir wollten keine Symbolszenen, sondern dass möglichst alles so ist, wie es war“ (Der Spiegel). Deshalb sei es bei Reimanns Dekonspiration vor dem Schriftstellerverband auch nicht so „diabolisch“ zugegangen wie vom Sender gewünscht. Gedeck betonte in vielen Interviews, welch „wunderbares, kluges und mitreißendes Zeugnis dieser Zeit“ Reimanns Tagebücher seien. Bei der Lektüre fühle man sich, „als wäre man dabei gewesen“ (Die Zeit). Zur Vorbereitung auf die Rolle hat Gedeck auch mit Reimanns Bruder und ihrer besten Freundin gesprochen und Schreibmaschine gelernt, sie nennt es „eintauchen in die Figur“ (Der Tagesspiegel). Dafür gab es viel Lob: „Die äußere Ähnlichkeit zwischen historischer Figur und Darstellerin ist verblüffend, aber unwesentlich für die Wahrhaftigkeit dieser souveränen […] Paraphrase auf eine Künstlerexistenz in der DDR“ (Die Welt). Auch das Wesen der Reimann ist laut Gunnar Decker von Neues Deutschland realitätsgetreu dargestellt worden: „Dass die Autorin und ihr Lektor sofort nach dem ersten Treffen im Bett landen, könnten mit dem Wesen Reimanns weniger Vertraute für einen billigen Filmeffekt halten, aber so war sie: Jederzeit direkt“. Selbst Reimanns Bruder Lutz sagte laut Regisseur Markus Imboden (DVD-Bonusinterview) bei der Filmpremiere, er finde den Film „über die Hälfte unglaublich authentisch“ und habe das Gefühl gehabt, das sei Brigitte Reimann, die er sieht. Dennoch geht der Film „aus dem Wunsch nach Verdichtung und Wahrheit“ Kompromisse ein (Der Spiegel). Die Handlung weicht bei Jons Stasi-Tätigkeit von der dokumentierten Sachlage ab. In seinen BStU-Akten lassen sich nämlich keine Hinweise auf eine explizite Überwachung Reimanns finden. Hier zeigt sich ein Problem jeder Verfilmung biografischen Materials: Wie authentisch kann ein Film ein Leben nachzeichnen, wenn der Zuschauer mehr weiß als die Heldin? Reimann selbst erfuhr nie von der Stasi-Tätigkeit Jons, sie empfand nie die Wut des Zuschauers ob seiner Skrupellosigkeit. Die Filmemacher weisen zwar auf dem DVD-Cover auf die künstlerische Freiheit bei der Filmgestaltung hin: „Die Handlung basiert auf den Tagebüchern, geht aber frei mit Personen, Daten und Ereignissen um.“ Diese Erklärung lässt sich allerdings im Film selbst nicht finden.
Rezeption
Reichweite
Die TV-Erstausstrahlung fand am 18. Juni 2004 statt, die Zahl der erreichten Zuschauer ist nicht bekannt. Der Film ist als DVD in zwei Editionen mit umfangreichem Bonusmaterial verfügbar (Interviews mit Martina Gedeck, Markus Imboden, Kai Wiesinger, Heinrich Schmieder und Martin Feifel, Fotogalerie, Biografien von Martina Gedeck und Brigitte Reimann).
Rezensionen
Hunger auf Leben und insbesondere die Leistung von Martina Gedeck wurden von den Medien überwiegend sehr positiv aufgenommen. Reinhard Wengierek (Die Welt) betört der Film durch seine irritierende Beiläufigkeit ohne jede Sensationslust: Es sei „ein wunderbar leiser, samtig dunkler, behutsamer und klarer, feinfühliger Film“. Auch Christopher Keil bezeichnet ihn in der Süddeutschen Zeitung (17. Juni 2004) als „unaufgeregt“ und ist sich sicher, dass er „zu den besten deutschen TV-Beiträgen des Jahres“ zählen wird. Diese Ansicht teilt auch Der Tagesspiegel („sicher einer der Höhepunkte des kommenden Fernsehjahres“). Filmmagazine heben besonders die Poetik (TV Spielfilm, Prisma) und Differenziertheit (Filmdienst) hervor. Der Film vereine vieles in sich, er sei gleichzeitig ein „deutsches Schicksalsstück aus dem Osten, eine DDR-Alltags- und Sozialgeschichte, eine Künstlertragödie, ein Liebesfilm“ (Die Welt). Bild.de hebt besonders den letzten Punkt hervor, mehr noch, Hunger auf Leben sei „ein Film mit vielen freizügigen Liebesszenen“, bei denen Martina Gedeck gedoubelt wurde – entsprechend lautete der sensationsheischende Titel des Beitrags „Achtung! Diese Sex-Szenen sind die nackte Lüge“.
Die meisten Kritiker bewerten die Darstellung der DDR als „sachlich-nüchtern“ (dieterwunderlich.de). Es gebe „weder eine Verteufelung des bösen Systems noch eine Verherrlichung der Ideale“ (Süddeutsche Zeitung vom 17. Juni 2004). Stattdessen rücke man auf kluge Weise „die Würde und die Drangsal intellektueller Idealisten ins Bild“ und zwar ohne Pathos, Dämonisierung und „Lächerlichmachen der eisig zynischen, komisch schmierigen, der gefährlichen Bonzen, Bönzchen, Denunzianten“ (Die Welt). Der „Kampf der Menschen, die zur DDR als einem Gesellschaftsversuch hielten“ (Süddeutsche Zeitung 2004), und deren Schwanken zwischen Idealismus und Realsozialismus kommen nach Meinung der meisten Kritiker „intensiv zum Ausdruck“ (dieterwunderlich.de).
Nikolaus von Festenberg vom Spiegel findet hingegen, dass der Zuschauer vom Glauben Reimanns an den Sozialismus zu wenig mitbekomme. Er erklärt das damit, dass biografische TV-Verfilmungen immer auch Lebensverkürzungen seien und der Zuschauer „den Sog von früher“ ohnehin nicht mehr verstehen könne, „die Asche der Geschichte schmeckt nur noch staubig“. Trotzdem sei es schade, dass der Film auch andere geschichtlich bedeutsame Punkte wie die Städtebauprobleme von Hoyerswerda nur streifen könne. Für Reinhard Wengierek von Der Welt beeinträchtigt es die „Wahrhaftigkeit“ des Films dagegen überhaupt nicht, dass er sich nicht sklavisch ans Biografische hält. Gunnar Decker von Neues Deutschland, einer Zeitung mit einem Leserschwerpunkt in Ostdeutschland, übt wiederum Kritik an der Spiegel-Kritik, auch sie sei nämlich nicht hundertprozentig historisch korrekt, da sie suggeriere, Reimann sei aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden. Stattdessen wurde sie 1963 sogar in den Vorstand gewählt. In einer Sache sind sich Neues Deutschland und Der Spiegel aber einig: dass ein Schweizer Regisseur und eine westdeutsche Schauspielerin einen Film geschaffen haben, der fast ohne Ost-West-Klischees und ohne Stereotype auskommt. Der „Westimport“ mischte sich ein und wehrte alle Versuche ab, die Stasi zu dämonisieren (wie vom Sender gewünscht), „mit heimlicher Verachtung und Besserwisserei lief nichts“, keine Seite habe die andere über den Tisch gezogen (Der Spiegel). Gedecks Sorge, die Reimann könne sich ob des Schmonzes im Grab umdrehen, sei unnötig: „West und Ost haben gemeinsam aufgepasst“ (Der Spiegel). Bei Neues Deutschland freut man sich ebenfalls unverblümt über das Ergebnis dieser Zusammenarbeit: „Da interessiert sich ein Regisseur wirklich für eine Ost-Biografie und führt sie nicht bloß vor, verzichtet auf Klischees.“ So etwas habe man „kaum für möglich gehalten“.
Auszeichnungen
Martina Gedeck erhielt den Deutschen Fernsehpreis 2004 als beste Hauptdarstellerin in einem Fernsehfilm.
Wissenschaftliche Aufarbeitung
Nadine Nowroth (2012) hat am Dubliner Trinity College in einer Dissertation den Realitätsbezug von Hunger auf Leben untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass der Film „bei genauerer Betrachtung einen recht fragwürdigen Wirklichkeitsbezug“ hat (S. 119). Auch Matthias Braun (2005, S. 625) attestiert dem Film einen besonders „lockeren Umgang mit den Fakten“. Die Darstellung von Reimanns Stasi-Kooperation erfolge insgesamt „größtenteils in Gestalt eines Opfernarrativs“, weil der Film die (irrige) Annahme der Zuschauer unterstütze, Reimanns Anwerbung sei erzwungen gewesen. Er suggeriert, dass die Staatssicherheit Reimann von Beginn an erpresste – tatsächlich wurde das Druckmittel „Günter“ (laut ihren Tagebüchern) erst dann eingesetzt, als sie bereits freiwillig einer Zusammenarbeit zugestimmt hatte. Sie tat dies in erster Linie aus ideologischer Überzeugung, doch auch aufgrund einer gewissen Sympathie für den Leutnant, „einen vernünftigen Mann, mit dem sich diskutieren lässt“ (Nowroth 2012, S. 128). Sie fühlte sich bei all dem nicht unter Druck gesetzt:
„Also zugegeben, Kettner [Leutnant der Staatssicherheit, N. N.] ist ein guter Psychologe, und er hat mich wunderschön eingewickelt – wobei ich mir all die Zeit bewusst war, eingewickelt zu werden; er hat mich beinah überzeugt von den ideellen Zwecken seines Instituts. Außerdem reizt mich das Abenteuer […] ein bisschen beitragen zu können, wenn es darum geht, die gute, saubere Sache des Sozialismus von all dem Dreck zu befreien, der ihr anhängt.“ (Nowroth 2012, S. 124)
Nowroth begründet die Abweichungen des Drehbuchs von der dokumentierten Sachlage mit der Komplexität der filmischen Adaption. Es entspreche beispielsweise der melodramatischen Struktur des Films, dass Reimanns Dekonspiration „in stark überspitzter Form“ dargestellt werde: „In mutiger Heldenpose duelliert sich eine offensive Darstellerin verbal mit der Staatssicherheit“, während in ihren Tagebüchern die inneren Zweifel und die Angst vor negativen Konsequenzen viel deutlicher zu spüren seien. Schwächen der Hauptfigur würden also von den Filmemachern nur sehr ausgesucht platziert – „auch wenn man dafür die Fakten entsprechend modellieren musste“ (S. 128). Solche Faktenmodellage wird auch durch gezieltes Weglassen von Szenen erreicht: Reimanns Stasi-Tätigkeit wird nämlich filmisch weitgehend ausgeblendet und szenisch auf Anwerbung und Dekonspiration reduziert (S. 126). Ein weiterer Kunstgriff der Filmemacher: Hans Kerschek als heimlich spitzelnder Antagonist. Die Filmbehauptung, Kerschek sei gezielt auf Reimann angesetzt worden, wird von seiner IM-Akte nicht bestätigt. Die Verpflichtung erfolgte erst kurz vor der Trennung von Reimann und blieb über deren Tod hinaus bestehen (S. 130). Im Film dagegen wird die letzte Phase von Reimanns Leben (von 1970 an) durch einen Schnitt (Kerschek besucht Major Zürner) in einen falschen Kontext gesetzt. Es wird suggeriert, die Bespitzelungen Reimanns hätten ausschließlich im innerfamiliären Kontext stattgefunden (S. 133) – tatsächlich hatte der „Operative Vorgang Denker“, der Kollegenüberwachung, Postkontrolle und Telefonüberwachung einschloss, nichts mit Kerschek zu tun. Die Realität wäre aber wohl zu komplex für ein TV-Drama gewesen (S. 134). Durch die Reduzierung der Stasi-Verstrickungen werden „bereits bestehende Vorurteile gegen Kerschek scheinbar unreflektiert aufgegriffen und reproduziert“, lebende Angehörige könnten dadurch unter Umständen belastet werden (S. 131).
In ihrer 2016 erschienenen Doktorarbeit zieht Nadine Nowroth das Fallbeispiel Kerschek/Reimann in Hunger auf Leben heran, um die Tradierung von Bespitzelungsgeschichten innerhalb von Künstlerfamilien in medialen Adaptionen zu erklären. Das Narrativ der innerfamiliären Überwachung werde unreflektiert als spannungssteigerndes Mittel einer filmischen Adaption modelliert. Darüber hinaus liege der Fokus von Hunger auf Leben „klar auf einer Manifestierung der vorherrschenden öffentlichen Wahrnehmung der Schriftstellerin“ (S. 65) und konstruiere die Lebensgeschichte Reimanns dementsprechend als Weg von einer eher parteikonformen Autorin zu einer kritischen Schriftstellerin.
Erinnerungsdiskurs
In Hunger auf Leben lassen sich zwei narrative Bedeutungsmuster identifizieren, die auch andere filmische Aufarbeitungen der DDR verwenden. Da ist zunächst das Narrativ der innerfamiliären Überwachung von Reimann durch Hans Kerschek. Die „romantische IM-Geschichte ist dem kommerziellen Erfolg des Films zuträglich, wie man bereits bei Das Leben der Anderen sehen konnte“ (Nowroth 2016, S. 134), sie muss allerdings im Hinblick auf die Aktenlage kritisch hinterfragt werden. Das zweite Bedeutungsmuster bildet in Hunger auf Leben das Pflichtgefühl gegenüber der sozialistischen Volksgemeinschaft und dem antifaschistischen Gesellschaftsbild, das Fluchtaktionen zum Verrat werden lässt. Für Reimann ist „der Schritt über die Grenze“ „ein Schritt zurück in die Vergangenheit“, der Bruder wird für sie durch seine Flucht zum „Verräter“. Für Lutz dagegen ist Reimann „Staatsdichterin“, die „die Verwaltung des Mangels“ und „die Bevormundung“ einfach hinnimmt. Dieses „Gegeneinander von Bruder und Schwester“ lässt Reimann zum ersten Mal „schmerzlich die Tragödie unserer zwei Deutschland“ spüren. Obwohl sie den Glauben an die sozialistischen Ideale nie ganz verliert, wandelt sie sich doch von einer parteikonformen Autorin zu einer kritischen Schriftstellerin. Dieses Bild entspricht der öffentlichen Wahrnehmung der Schriftstellerin (Nowroth 2016), was den Film Hunger auf Leben zum „Konsensfilm“ macht, der – um den Publikumsgeschmack zu treffen – Mehrheitsmeinungen verstärkt und so das vorherrschende kulturelle Gedächtnis affirmiert (Fischer/Schuhbauer 2016).
Einige filmische Strategien von Hunger auf Leben unterstützen eine diktaturzentrierte Erinnerung an die DDR. So wird ein Täter-Opfer-Gegensatz geformt: eine Protagonistin mit einer großen Stärke und wenig negativen Aspekten sowie Antagonisten ohne Zwischentöne (Stasimajor Zürner und IM Kerschek). Außerdem verliert die Verfechterin der sozialistischen Ideale zunehmend den Glauben an ein System, das immer mehr zum negativen Kontrastbild vor der Folie rechtsstaatlicher Normen und Freiheitstraditionen modelliert wird (Reimann: „Wieso misstraut ihr denen, die dieses Land lieben, die es aufbauen wollen? Was soll denn aus so einem Land werden?“). Allerdings werden auch die sozialen und wirtschaftlichen Gratifikationen des DDR-Systems anhand der Künstler-Privilegien dargestellt (Schriftstellerheim, Neubauwohnung, Ruhm).
Das Thema „soziale Sicherheit“ erhält zwar Raum, wird aber durch die Architektur der Plattenbausiedlungen und hohe Suizidraten konterkariert. Neben dem Diktatur- spiegelt sich auch das Arrangementgedächtnis in Reimanns Persönlichkeit: Ihre Mitmachbereitschaft und ihr Patriotismus („Es heißt nicht Zone, es heißt DDR. So viel Achtung kann ich für unseren Staat schon verlangen.“) existieren im Spannungsfeld von Bevormundung und Repression. Schließlich markiert der Film durch den Verzicht auf Ost-West-Klischees und Stereotype auch einen Wendepunkt im gesellschaftspolitischen Diskurs und zahlt damit auf das Konto des Fortschrittsgedächtnisses ein. Kluge Dialoge zwischen Reimann und Lutz eröffnen neue Perspektiven auf die Vergangenheit, da sie eher auf Gemeinsamkeiten der „zwei Deutschland“ (Reimann) als auf Unterschiede abzielen. Reimanns Aussage, man könne nicht Deutschland mit Deutschland vertauschen, spielt auf die moralische und politische Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten an. Das Vorurteil im Geschichtsdiskurs, in einer Diktatur wie der DDR könne es nur falsches Leben gegeben haben, wird damit von einem Schweizer Regisseur und einer westdeutschen Schauspielerin ausgeräumt. Deshalb kann man als Zuschauer „für einen glücklichen Moment“ (Neues Deutschland) denken: „So könnte sie aussehen, die deutsche Einheit. Erkennt der Westen in der Geschichte (und den Geschichten) des Ostens nun endlich auch sich selbst?“
Empfehlung
Empfehlung der Autorin
Hunger auf Leben ist eine leise, feinfühlige und melancholische Charakterstudie der Brigitte Reimann mit klugen Dialogen und ohne Ost-West-Klischees. Im Hinblick auf historische Faktentreue sollte die Biografie kritisch hinterfragt werden. Das Drama lässt den Zuschauer am Ende dieses kurzen, heftigen Daseins traurig und seltsam entschlossen zurück: Man will leben, lieben – und nicht nur „träumen von dem, was man sein und tun soll“, während „die Zeit vergeht, die kostbare Zeit“ (Reimann).
Literatur
Matthias Braun: Bücher waren ihr Alltag, Schreiben war ihr Leben: Brigitte Reimann im Spiegel der Stasi-Akten. In: Deutschland-Archiv 2005, S. 625-634.
Thomas Fischer, Thomas Schuhbauer: Geschichte in Film und Fernsehen. Theorie – Praxis – Berufsfelder. Tübingen: A. Francke 2016.
Nadine Nowroth: Schutzraum Familie? Strukturen und Typologien von Bespitzelungsprozessen innerhalb von Künstlerfamilien in der DDR – Eine Untersuchung von vier Fallbeispielen im Spannungsfeld von Akten und Adaptionen. Dissertation. Dublin: Trinity College 2016
Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts: Tagebücher 1955-1963. Berlin: Aufbau 1997.
Brigitte Reimann: Alles schmeckt nach Abschied: Tagebücher 1964-1970. Berlin: Aufbau 1998.
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