Westwind
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung der Autorin
Entstehungskontext
Beteiligte
Robert Thalheim, Jahrgang 1974, wuchs in Spandau (West-Berlin) auf. Seine Familie hatte ein Grundstück in Ostdeutschland – deshalb passierte er als Kind häufig die Grenze. „Ich erinnere mich an das bedrückende Gefühl, wenn wir Richtung Mauer aufgebrochen sind, ständig waren wir der Willkür an den Grenzkontrollen ausgeliefert.“, erzählt Thalheim in einem Zeit-Interview. Gleichzeitig spürte er in der Nachwendezeit eine „Sehnsucht, fremde Kulturen kennenzulernen“, zu denen für ihn auch der „Osten“ zählte. Nach einem US-amerikanischen High-School-Abschluss und einem deutschen Abitur absolvierte Thalheim seinen Zivildienst in Polen. Daraus erwuchs eine Faszination für osteuropäische Kulturen und den Film – nach seiner Rückkehr stieg Thalheim in die Kulturszene ein. Von 1997 bis 1998 war er Regieassistent am Berliner Ensemble, darauf folgte ein zweijähriges Grundstudium der Neuen Deutschen Literatur, Geschichte und Politik an der FU Berlin. Von 2000 bis 2006 studierte Thalheim Filmregie an der HFF „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg und realisierte seitdem mehrere Theaterstücke, Kurz- und Langspielfilme, die vielfach ausgezeichnet wurden.
Westwind ist Thalheims erster Film mit DDR-Bezug. 2017 brachte er Kundschafter des Friedens in die Kinos – eine Komödie über DDR-Auslandsagenten.
Dem filmischen DDR-Diskurs steht Robert Thalheim kritisch gegenüber: „Über die DDR gibt es Komödien, die FDJ-Hemden und andere Accessoires ausstellen. Oder es gibt Unterdrückungsdramen, die uns glauben machen wollen, dass die ganze DDR ein einziges Arbeitslager war. Die Menschen, mit denen ich über die DDR spreche, sagen etwas anderes: Die Wahrheit lag zwischen beiden Extremen. Sie sagen, dass es auch Freiheiten gab und nicht jeder von der Stasi überwacht wurde.“ Mit Westwind bemüht sich Thalheim um eine Differenzierung und sieht sich als Regisseur, der „brutal nach eigenen Interessen“ geht: „Ich suche weniger nach Geschichten, die einen kommerziellen Erfolg wahrscheinlicher machen oder die politisch brandaktuell sind“, behauptet er im Zeit-Gespräch. Stattdessen sei Westwind für ihn „eine kleine Liebeserklärung an zwei Welten, die versuchen immer noch zusammen zu kommen“: unter anderem seine eigene und die seiner Ehefrau, die aus Ostberlin stammt (Westfälische Nachrichten). Somit floss ins Drehbuch auch Persönliches ein.
Drehbuchautor Ilja Haller, Jahrgang 1970, studierte Philosophie und Englische Literatur an der FU Berlin sowie Drehbuch und Dramaturgie an der HFF „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Seit 2002 war er als freier Drehbuchautor tätig und gründete 2011 mit Philip Voges die Produktionsfirma Chestnut Films in Berlin. Im April 2017 verstarb Ilja Haller im Alter von 46 Jahren.
Produzentin Susann Schimk, Jahrgang 1971, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, wuchs mit ihrer Zwillingsschwester in der sächsischen Kleinstadt Elstra auf. Die in Westwind erzählte Geschichte basiert auf ihren Erinnerungen: Doreen Schimk, deren Vorname im Film übernommen wurde, flüchtete im Sommer 1988 über Ungarn in die BRD. Susann „war diejenige, die sich nicht verliebt hat – und nicht in den Westen wollte“ (Welt), ihrer Schwester aber 1989 über die Prager Botschaft in den Westen folgte und später nach Potsdam-Babelsberg zurückkehrte, wo sie Film- und Fernsehproduktion studierte. Gleich nach dem Studienabschluss 2001 gründete sie mit ihrem Kommilitonen Jörg Trentmann die Produktionsfirma credo:film GmbH in Berlin. Laut eigener Aussage produziert credo:film „individuelle, attraktive und emotionale Spiel- und Dokumentarfilme für Kino und Fernsehen“, die regelmäßig auf Festivals im In- und Ausland laufen und mit renommierten Preisen ausgezeichnet werden. Westwind ist eine Koproduktion mit Laokoonfilm Budapest, ZDF Kleines Fernsehspiel und ARTE.
Gefördert wurde Westwind vom Medienboard Berlin-Brandenburg, von der Filmförderungsanstalt FFA, von der Mitteldeutschen Medienförderung und vom Deutschen Filmförderfonds mit einer Gesamtsumme von etwa 800.000 Euro.
In Kooperation mit dem Filmverleih Zorro Film produzierte FILMERNST – ein Gemeinschaftsprojekt des Filmverbandes Brandenburg und des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) – ein umfassendes Unterrichtsmaterial zum Film. Außerdem brachte Zorro Film zum Kinostart ein Presseheft heraus.
Filminhalt
Handlung
Die Zwillingsschwestern Doreen und Isabel aus Döbeln dürfen zum Training in ein Pionierlager am Balaton im sozialistischen Ungarn reisen. Es ist ihre Auszeichnung als Bezirksmeister im Rudern. Auf der Reise lernen sie Arne und Nico aus Hamburg kennen. Sie wollen sich wiedertreffen, was vom Lagerleiter Balisch untersagt wird. Er erinnert die Mädchen an ihre Chance auf eine Sportkarriere in Berlin. Die Zwillinge treffen sich heimlich mit Arne und Nico. Im Lager suchen die DDR-Erzieher Klaus und Ronny die Nähe der Schwestern. Doreen aus der DDR und Arne aus der BRD verlieben sich. Isabel fühlt sich von ihrer Schwester zurückgesetzt. Arne schlägt Doreen vor, sie mit ihrer Schwester im Auto über die ungarisch-österreichische Grenze nach Hamburg zu schmuggeln. Darüber geraten die Schwestern in Streit. Schließlich willigt Isabel ein mitzukommen, entscheidet sich im letzten Moment aber doch dagegen. Im Lager ist ihre Abwesenheit aufgefallen. Der Lagerleiter informiert die Polizei. Erzieher Klaus möchte die Polizisten unterstützen, doch Balisch lenkt sie auf eine falsche Fährte. Doreen ruft ihre Schwester nach der geglückten Fahrt über die Grenze an. Beide sind zufrieden. Die Geschichte von Liebe und Teilung wird aus der Perspektive der Schwestern erzählt.
Zentrale Figuren
Isabel (Luise Heyer) und Doreen (Friederike Becht)
Die Schwestern verkörpern ein symbiotisches Zwillingspaar. Sie sind sich nahe. Isabel ist diszipliniert und leistungsorientiert. Sie unterdrückt ihre Sympathie für Ronny. Doreen ist unternehmungslustig, spontan und schlagfertig.
Arne (Franz Dinda) und Nico (Volker Bruch)
Arne und Nico sind lässig und gut gekleidet. Nico macht herablassende Witze über Ostdeutsche. Die jungen Männer haben gerade Abitur gemacht und werden ein Studium beginnen. Sie sehen gut aus, stammen aus wohlhabenden Hamburger Familien und reisen mit Mercedes und VW Käfer an. Die bürgerliche Orientierung von Arne und seinen Freunden zeigt sich in ihren Studienwünschen: Medizin, Jura und BWL.
Gesellschaftsbild
Die Menschen aus der DDR sind ehrlich, ernst, warmherzig und kollektivistisch orientiert. Sie sitzen gern zusammen am Lagerfeuer bei Gitarrenmusik (Ronny), bauen im Ferienlager zusammen ein Floß und feiern ein Neptunfest. Sie sind auch ehrgeizig (Isabel, Balisch). Zum Pionierlager gehört der Fahnenappell. Menschen aus der DDR leben in schlichten Zeltunterkünften. Die Menschen aus der BRD haben Geld, wohnen im noblen Hotel, machen Witze über die DDR. Jura-, BWL- und Medizinstudium sind Garanten des Klassenerhalts und für Aufstiegschancen in der BRD. In der DDR ist Leistungssport eine Aufstiegschance. In der BRD hört man Westmusik im Walkman, in der DDR kennt man Depeche Mode nur aus dem Westradio – „bei Westwind“. Der ungarische Plattenverkäufer verjagt DDR-Menschen von seinem Stand, weil sie keine Westmark haben. Der Vertreter des Systems – Lagerleiter und Trainer Balisch – ist ambivalent dargestellt. Als Neptun darf er im selbstgebauten Floß untergehen. Ein Äquivalent für einen Systemvertreter der BRD gibt es im Film nicht. Die Chance auf ein gemeinsames Leben von Arne und Doreen besteht nur in der BRD. Dass Arne in der DDR bleibt, ist keine Option.
Ästhetik und Gestaltung
Die Musik (Depeche Mode: „Never let me down again“ 1987, The Cure: „Just like Heaven“, 1987) unterstreicht einerseits die Themen Hoffnung und Liebe, steht aber auch für die Verführungskraft des Westens. Es gibt andererseits Lieder aus der DDR, die der kühlen Popästhetik des Westens Poesie, ergreifende Texte und Ruhe entgegensetzen („Käfer auf‘m Blatt“ von Chicorée, 1987).
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Der Film wird mit einem „Nach einer wahren Geschichte“-Hinweis beworben, der selbst auf dem Filmpalakt auftaucht. Tatsächlich beruht Westwind auf der Biografie von Drehbuch-Mitautorin und Produzentin Susann Schimk und ihrer Schwester Doreen. Im „realen Leben“ waren die Zwillinge Handballerinnen und keine Ruderinnen. „Aber weil uns dieses Bild ‚Zwei in einem Boot‘ gefiel, und auch, weil viele Zwillinge Rudern als Leistungssport betreiben, haben wir das geändert. Aber wir haben genau in dem Pionierlager gedreht, in dem wir damals auch waren. Und es gibt auch viele Dialoge, die fast identisch sind“, gibt Susann Schimk in einem Interview zu. Doreen Schimk erzählt, wie sie ihre Flucht in die Bundesrepublik vorbereitet hatten, bei der sie sich im Motorraum des VW Käfer aus Hamburg versteckte: „Wir sind um den Balaton gefahren und haben dann auf einer Autofähre gewartet, mit heißgelaufenem Motor. Ich hab ungefähr 20, 25 Minuten ausgehalten und danach war ich hochrot angelaufen und bin völlig verschwitzt wieder raus. Diese Erfahrung hat dann zu der Entscheidung geführt, dass ich am Tag der Flucht erst ungefähr fünf Minuten vorm Grenzübergang auf einem Feldweg mit meinem Badeanzug in die Hutablage gekrochen bin“.
Robert Thalheim geht mit den Primetime-DDR-Narrativen ins Gericht, grenzt sich vom „Fernsehmainstream“ ab und betont seine Intention, ein ambivalenteres – und deshalb auch realitätsnäheres – Bild zu zeichnen: „Wir sollten uns mit Lebensrealitäten genauer und kleinteiliger auseinandersetzen. Ich weiß, dass das im Fernsehen in der Primetime nicht durchsetzbar wäre. Um 20.15 Uhr hätte der Zaun, der die Zwillinge von ihren westdeutschen Verehrern trennt, nicht nur Löcher, sondern einen Stacheldraht oben drauf. Um 20.15 Uhr würden wahrscheinlich ständig Jungpioniere durchs Bild marschieren müssen, und der Rudertrainer der Zwillinge wäre ein Stasi-Sadist. Was wir aber in Westwind zeigen wollen: es geht auch anders“ (Zeit).
Musik ist in diesem Film wichtig. Der Soundtrack stammt aus den 1980er Jahren, in denen die Handlung angesiedelt ist: Depeche-Mode und The Cure. Gedreht wurde am Balaton, in dem Pionierlager, in dem die Schimkes auch selbst trainiert hatten.
Die vier Hauptdarsteller stammen aus DDR und BRD. Während Friederike Becht, die die Doreen spielt, aus Rheinland-Pfalz kommt, wurde ihre Filmschwester Luise Heyer Mitte der 1980er Jahre im Osten Berlins geboren. Franz Dinda – Arne – ist Thüringer und Volker Bruch, der Nico spielt, gebürtiger Münchener.
Rezeption
Reichweite
Der Film kam am 25. August 2011 in die Kinos und verkaufte 24.579 Tickets.
Rezensionen
Der Film wurde in der überregionalen Presse besprochen. Rainer Gansera lobte in der Süddeutschen Zeitung, dass er platte Ost-West-Klischees vermeidet. Dem Spiegel war die „Ferienlager-Romantik“ zu langweilig. Die Welt fand, dass es in diesem Film um „DDR-Alltag“ geht. Sie lobte, dass es Regisseur Robert Thalheim gelungen sei, „DDR-Alltag einmal weder zu veralbern wie in Sonnenallee und ähnlichen Komödien, noch mit gängigen Horch-und-Guck-Thriller-Elementen zu bestücken“.
Auszeichnungen
Deutscher Filmpreis (2012): Vorauswahl in der Kategorie Spielfilm
Film|Neu Washington, USA (2012): Eröffnungsfilm und Gewinner des Publikumspreises
Chicago International Children’s Film Festival (2012): Jugendjurypreis in der Kategorie Spielfilm
Die Deutsche Film- und Medienbewertung stufte den Film als „besonders wertvoll“ ein.
Erinnerungsdiskurs
Westwind liefert zwar kein holzschnittartiges Diktaturgedächtnis à la Stasi-Täter und Überwachungsopfer. Der Film versucht, sowohl Ost als auch West sprechen zu lassen und zeigt letztlich sympathisch oder wenigstens nachvollziehbar dargestellte Anhänger des sozialistischen Wegs. Jedoch löst er sich nicht von der Grundannahme, die Bundesrepublik sei das bessere, lebenswertere Deutschland gewesen. Der gemeinsame Weg von Arne und Doreen führt wie selbstverständlich in die BRD. Über die Option eines gemeinsamen Lebens in der DDR wird keine Sekunde lang nachgedacht. Mit dieser Grundannahme fügt sich der Film erinnerungspolitisch in den dominanten Diskurs des überlegenen Westens.
Empfehlung
Empfehlung der Autorin
Wer einen Film sucht, der eine sympathische und einfühlsame Liebesgeschichte zwischen Ost und West erzählt, dargestellt von einem hervorragenden Cast, ist hier gut beraten. Was man nicht erwarten sollte, ist ein Bruch mit der Erzählung, der Sozialismus hat(te) keine Zukunft.
Empfohlene Zitierweise