Im Niemandsland
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung der Autorin
- Literatur
Entstehungskontext
Beteiligte
Florian Aigner, 1975 in Berlin geboren, ist Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent. Er ist in Zehlendorf aufgewachsen und war 14, als die Mauer fiel. In seiner Jugend spielten die Mauer, die DDR und der Ost-West-Konflikt allerdings kaum eine Rolle (Potsdamer Neueste Nachrichten). Erst nach dem Mauerfall und durch die Nähe zu Kleinmachnow rückte das Thema stärker in seinen Fokus. 1994 bis 1999 studierte Aigner Germanistik und Soziologie und startete dann eine Filmkarriere, zu der ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin gehört (2001 bis 2007). Aigner drehte vor allem Dokumentarfilme für das ZDF und den WDR. Weltexpresso sagte er, dass die Idee für Im Niemandsland schon seit 30 Jahren in ihm gewachsen sei. Aigner erinnert sich, wie euphorisch die Menschen am 9. November 1989 waren. „Im Juni 1990 hörte ich zum ersten Mal die Ausdrücke ‚Besserwessi‘ und ‚Jammerossi‘. Plötzlich redeten die Erwachsenen nicht mehr über neue Gesellschaftsformen, sondern stritten über Entschädigungen und Solidarzuschlag. Innerhalb weniger Monate war die Stimmung gekippt. Ich habe mich immer gefragt, wie das passieren konnte. Wieso wurde dieser Glücksfall der Geschichte verschenkt? Liegt darin die Ursache, dass Deutschland heute noch gespalten ist?“
Im Niemandsland ist ein Gemeinschaftsprodukt. Der Film wurde im November 2019 über die Agentur imFilm Verleih veröffentlicht.
Die Produktion wurde vom Medienboard Berlin-Brandenburg und dem Deutschen Filmförderfonds (DFFF) mit insgesamt 332.900 Euro gefördert.
Produktionsförderung |
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Medienboard Berlin-Brandenburg |
150.000 € (2016) |
Deutscher Filmförderfonds (DFFF) |
182.900 € (2018) |
Der Film wurde bei den 53. Internationalen Hofer Filmtagen uraufgeführt und kam am 7. November 2019 in die Kinos. Vor dem Kinostart veröffentlichte der Verleih eine Fotostrecke, einen Trailer sowie ein Plakat. Darüber hinaus wurden ein Presseheft, eine Homepage und Facebook-Seite erstellt. Es gibt umfassende filmpädagogische Begleitmaterialien, die Anregun-gen für den Einsatz im Unterricht und Anknüpfungs-punkte für die Fächer Deutsch, Ethik, Geschichte, Politik, Sozialkunde und Wirtschaft geben. Das Filmplakat zeigt Katja und Thorben, die sich leidenschaftlich küssen, der Fokus liegt jedoch auf dem Titel und dem Grenzstreifen, den die beiden Niemandsland nennen. Die beiden Protagonisten verschmelzen und repräsentieren so die Wiedervereinigung.
Filminhalt
Handlung
Fast ein Jahr nach dem Mauerfall verliebt sich die 16-jährige Katja Behrendt aus Westberlin in den 17-jährigen Thorben Paulsen aus der DDR. Die Mauer steht dieser Liebe zwar nicht mehr im Weg, aber ihre zerstrittenen Familien, die nichts von der Beziehung ahnen. Thorben lebt im Elternhaus von Katjas Vater, der die Rückgabe erstreiten will und deshalb in einem Wohnwagen in Kleinmachnow campiert. Familie Paulsen weigert sich, das Haus aufzugeben. Thorbens Mutter bekommt außerdem eine Kündigung, nachdem ihr Betrieb von einem Westdeutschen gekauft wurde. Während sich die Alten um das Haus streiten, versuchen die beiden Jugendlichen, eine Brücke zwischen Ost und West zu schlagen. Nur zwischen den Mauertrümmern am Grenzstreifen, den die beiden Niemandsland nennen, können sie sich dem Familienkonflikt entziehen und frei von Vorurteilen in ihrer Liebe wachsen.
Zentrale Figuren
Katja Behrendt (Emilie Neumeister) ist 16 Jahre alt, wohnt mit ihrer Familie in West-Berlin und ist die älteste Tochter von Alexander und Heidi Behrendt. Katja ist auf den ersten Blick zwar ruhig und introvertiert, hat jedoch eine hohe emotionale Intelligenz und ist sehr reflektiert. Sie führt ein Tagebuch und will ihren Eltern helfen, ein klärendes Gespräch zu führen. Katja sehnt sich nach der Anerkennung ihres Vaters. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist kühl. Als Katja herausfindet, dass Heidi eine Affäre mit dem Nachbarn hat, bricht für sie eine Welt zusammen.
Thorben Paulsen (Ludwig Simon) ist 17 und wohnt mit seinen Eltern in Kleinmachnow. In seiner Freizeit spielt er Handball und will Profi werden. Katja ist Thorbens erste Freundin. Er schenkt ihr eine Kassette mit der Aufschrift: „Für Katja, das schönste Mädchen, das ich kenne“. Die Verständnisprobleme zwischen West-Katja und Ost-Thorben reichen bis in den Wortschatz. So sagt Thorben zum Beispiel: „Ich mag, wie du lachst und außerdem bist du urst hübsch.“ Katja: „Urst?“ Thorben: „Ähh, ich finde dich wunderschön.“ Als Thorben Katja von der Schule abholt, wird er von zwei westdeutschen Schülern ausgelacht: „Das sind aber keine Levis. Weißt du, wie mein Vater die nennt? Schimmeljeans. Die sehen so beknackt aus.“ Die Unterschiede zwischen den Lebenswelten belasten die Beziehung zunehmend.
Gesellschaftsbild
Im Niemandsland greift Themen auf, die in Filmen über die DDR selten aufgegriffen werden, aber zum historischen Verständnis beitragen: die innere Vereinigung, der wirtschaftliche Zusammenbruch im Osten, die Regelung der offenen Vermögensfragen. Die Sozialbeziehungen sind durch Konflikte geprägt. Jeder Charakter hat Geheimnisse, die Familien sind zerrissen und wirken orientierungslos. Das zeigt, wie schwierig die Zeit nach dem Mauerfall für beide Seiten war. Die Beziehung zwischen Staat und Bürgern ist instabil geworden. Vor allem Ostdeutsche fühlen sich trotz Mauerfall und Währungsunion benachteiligt und als Menschen zweiter Klasse. So gibt die Deutsche Bank Thorbens Familie keinen Kredit, und Thorbens Mutter wird nach 25 Jahren in der Produktionsleitung gekündigt, nachdem der Betrieb von einem Westdeutschen gekauft wurde – mithilfe eines Kredits der Deutschen Bank. Vater: „Wir müssen mit denen verhandeln.“ Mutter: „Mit Siegern kannst du nicht verhandeln.“
Die gegenseitigen Vorurteile beeinflussen die Beziehung zwischen den Charakteren negativ. Dazu passen die aufgeladenen und ernsten Dialoge. Thorbens Mutter zu Katja, der Freundin ihres Sohns: „Ich, ich, ich! Ihr Wessis seid alle gleich.“ Darauf Katja: „Mein Papa hat recht. Ihr meckert immer nur rum. Ihr seid voll die armen Ossis. Jetzt seid doch mal froh, dass ihr endlich frei seid.“ Humor gibt es nur in Form von Klischee-Witzen, die auf Kosten von Ost- oder Westbürgern gehen. Der Ost-West-Kampf wird auch über das Frauenbild ausgetragen. „Was macht denn deine Mutter?“ Katja: „Sie ist Hausfrau.“ Mutter: „Aja, und in der DDR haben alle gearbeitet, da gab’s keine Faulenzer.“ Hoffnung auf einen Neuanfang macht nur die Beziehung von Thorben und Katja.
Ästhetik und Gestaltung
Um die angespannte Atmosphäre zu unterstreichen, arbeitete der Regisseur mit passender musikalischer Begleitung. Die langsame Kameraführung unterstützt die ruhigen Momente und verleiht den Szenen Raumgefühl, während schnelle Szenenwechsel die Konflikte unterstreichen. Großaufnahmen werden verwendet, um Emotionen hervorzuheben. Romantische Szenen werden bei sanftem Tageslicht gedreht, wodurch schöne und vor allem harmonische Aufnahmen erzeugt werden können. Farbgestaltung und Farbintensität verstärken Emotionen. Während Thorben meist braune und rote Kleidungsstücke nutzt, die mit Anpassung, Zurückgezogenheit, aber auch mit Aggressivität und Leidenschaft assoziiert werden können, trägt Katja überwiegend grau und gelb. Diese Farben könnten Vorwärtsdenken, Leichtsinn und Nachdenklichkeit suggerieren.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Das Drehbuch beruht auf einem Zeitzeugenbericht aus Kleinmachnow. In der Stadt waren fast 70 Prozent der Bewohner in den 1990er Jahren mit den Problemen Zwangsenteignung und Rück-forderung konfrontiert. Florian Aigner hat mit vielen von ihnen gesprochen. Nachdem er auf die Geschichte mit dem Wohnwagen stieß, sei klar gewesen: „Das muss in den Film.“ (Potsdamer Neuste Nachrichten) Er drehte vom 24. April bis zum 25. Mai 2018 in Berlin, Ketzin, Potsdam und Kleinmachnow. Weltexpresso sagte er: „Als West-Berliner machte ich mich auf die Suche nach der DDR. Neben vielen Gesprächen mit Zeitzeugen waren die DEFA-Filme eine große Inspiration. Dieses Kinoerbe ist ein kultureller Schatz! Dokumentarfilme wie Berlin – Prenzlauer Berg (1990) von Petra Tschörtner, Winter adé (1988) von Helke Misselwitz, Leipzig im Herbst (1989) und Letztes Jahr Titanic (1989 bis 1991) von Andreas Voigt waren eine Quelle für Figuren und Szenen.“ Die Beziehung zwischen Katja und Thorben spielt eine andere Rolle: „Ich wollte damit die Sehnsuchtsstimmung der Zeit auffangen, die Begeisterung für den Moment.“ (Potsdamer Neuste Nachrichten)
Rezeption
Reichweite
Premiere feierte Aigners Film im Rahmen der 53. Internationalen Hofer Filmtage am 25. Oktober 2019. Am 7. November 2019 kam Im Niemandsland in die deutschen Kinos und ist seit dem 29. Mai 2020 auch auf Amazon Prime Video sowie als DVD und Blu-ray verfügbar. An der Kinokasse war der Film ein Flop. Er schaffte es in keinem Monat unter die Top 100, obwohl dafür nur wenige tausend Tickets verkauft werden müssen.
Rezensionen
Kino-Zeit lobte die authentische und originelle Liebesgeschichte: „Ein deutsch-deutsches Romeo und Julia mit Happy End und zwei Protagonisten, die sich statt unter einem Balkon im titelgebenden Niemandsland zwischen den Mauerresten treffen.” Kritische Stimmen, so zum Beispiel in der Filmzeitschrift epd Film, in TV TODAY und im Magazin Spielfilm, bemängelten unter anderem die vorhersehbare Handlung und die überwiegend gewöhnlichen Gestaltungselemente: „Aigners Handlung und deren Wendungen sind mitunter zu formelhaft und vorhersehbar geraten, die Figuren zu exemplarisch.” (Spielfilm) Rudolf Worschech: „In Niemandsland geht alles sehr schnell. Ein Blick und die Liebe bricht aus. Alles bleibt thesenhaft, weil Florian Aigner in seinen Debütfilm viel zu viel hineinpackt und seinen Figuren keinen Raum und keine Zeit zur Entfaltung gibt.” (epd Film).
Auszeichnungen
Bei den Biberacher Filmfestspielen 2019 erhielt der Film Im Niemandsland den Goldenen Biber in der Kategorie Bester Spielfilm. Die Jury begründete die Preisvergabe des Goldenen Bibers damit, dass „die Geschichte […] kurzweilig […], mit unerwarteten Wendungen und einem guten Gespür für Timing und Zeitkolorit" erzählt wird (BuntFilm). Darüber hinaus wurde der Szenenbildner Stefan Rohde auf den 53. Internationalen Hofer Filmtagen 2019 für die Kategorie Bestes Szenenbild nominiert (Crew United).
Erinnerungsdiskurs
Florian Aigners Spielfilm Im Niemandsland beleuchtet anders als viele Filme mit DDR-Thematik die Probleme und Herausforderungen der Nachwendezeit. Eingebettet in eine Liebegeschichte, schafft es Aigner, den Wandel nicht nur für Betroffene, sondern auch für ein junges Publikum verständlich zu machen. Katja und Thorben sind gefangen in einem Generationenkonflikt, dem sie nicht entkommen können. Obwohl sie noch sehr jung sind, können sie sich nicht vorurteilsfrei und neutral begegnen. Der Konflikt, den ihre Familien führen, belastet die junge Beziehung. Dadurch entsteht eine „Romeo und Julia“-Dynamik, die vor allem Zuschauer mit einer Vorliebe für Romantik und Nostalgie mitreißt. Der Titel beschreibt nicht nur den Grenzstreifen, den die Verliebten als Treffpunkt nutzen, sondern auch die rechtliche Ungewissheit, in der sich Deutschland 1990 befindet. Die Charaktere sehen die Wiedervereinigung sehr skeptisch. Der Film Im Niemandsland spinnt so das Arrangementgedächtnis weiter, weil er „vom richtigen Leben im falschen weiß“ (Sabrow 2009, S. 19) und den Westen nicht ungeschoren davonkommen lässt.
Empfehlung
Empfehlung der Autorin
Wer sich für historische Liebesfilme interessiert, den wird Im Niemandsland überzeugen. Florian Aigner konfrontiert Ost- und Westdeutsche und thematisiert die gegenseitigen Vorurteile. Mit Zwischen uns die Mauer und Jedes Jahr im Juni gibt es allerdings Ost-West-Liebesdramen, die emotional anspruchsvoller sind.
Empfohlene Zitierweise