Jenseits der Mauer
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung der Autorin
Entstehungskontext
Beteiligte
Friedemann Fromm, 1963 in Stuttgart geboren. Studium Dokumentarfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film (München). Studium Schauspiel und Regie in New York und Amsterdam. Seit 2006 Fachbereichsleiter für Regie an der Hamburg Media School. Zu seinen Filmen über die deutsch-deutsche Geschichte gehören die preisgekrönten Serien Die Wölfe (2009) und Weissensee (2010 bis 2018) sowie Zeit der Rache (2002). In einem Interview mit Rainer Tittelbach sagte Friedemann Fromm, Jenseits der Mauer sei „eine große Parabel auf die Wiedervereinigung“: „Erzählt wird von zwei Familien, die von den politischen Systemen instrumentalisiert werden und die mühsam aufeinander zugehen müssen.“ Die DDR sei kein harmloser, hinterwäldlerischer Staat gewesen, „wo alle Spreewaldgurken gegessen und Muckefuck getrunken haben“. Vielmehr habe man die Menschen mit „Mitteln“ gezwungen, die es ihnen „teilweise sehr schwer gemacht haben, mit sich selbst im Reinen zu bleiben.“ In einem weiteren Interview betonte er, dass im Film eine komplexe Geschichte erzählt werde, die „symbolhaft für die ganze Perversion der deutschen Teilung“ sei.
Holger Karsten Schmidt, 1965 in Hamburg geboren. Studium Drehbuch/Spielfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg. Seit 1995 Drehbuchautor für Fernsehen und Kino und seit 1998 Dozent an der Filmakademie Baden-Württemberg. Drehbücher mit DDR-Bezug: Zwei Tage Hoffnung (2002), Mord in Eberswalde (2013), Der Handymörder (1998), Der Stich des Skorpion (2004), Für immer ein Mörder – Der Fall Ritter (2014) und Sanft schläft der Tod (2016). Er schrieb außerdem einen Roman zur deutsch-deutschen Geschichte: Die Toten von Marnow (2020). Zu Moviepilot sagte Schmidt, ihm sei wichtig, Charaktere nicht zu bewerten: „Als Westdeutscher, der beim Mauerfall nur Zaungast war, urteilt man manchmal vielleicht zu schnell oder macht es sich zu einfach, nach dem Motto ‚Also ich hätte mich da ganz anders verhalten’. (...) Mir war es wichtig zu zeigen, wie ein perfides System die Gefühle von Menschen so instrumentalisieren kann, dass diese Menschen Dinge tun, die sie unter normalen Bedingungen weit von sich weisen würden“.
Jenseits der Mauer ist eine Produktion der Ziegler Film in Co-Produktion mit WDR und MDR. Regina Ziegler, 1944 in Quedlinburg geboren, zunächst Produktionsassistentin beim Sender Freies Berlin, 1973 gründet sie die Regina Ziegler Filmproduktion (ab 2000 Ziegler Film). Zu ihren Produktionen gehören Ohne Rückfahrkarte (1981), German Dreams (1985), Novembertage (1990), Die Mauerbrockenbande (1990), Rodina heißt Heimat (1991), Einschub in den Bericht des Politbüros (1998), Die Wölfe (2009) und Weissensee (2010 bis 2018).
Von der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) wurde der Film 2008 mit einer Produktionsförderung von 500.000 Euro unterstützt.
Im Online-Bildungsmedienportal Lernando empfiehlt Jörg Sauer Jenseits der Mauer für den Schulunterricht. Das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik hat 2015 anlässlich einer TV-Wiederholung für den Film geworben. Es gibt einen Trailer auf Kino.de. Die DVD erschien 2009. Bonus: Dreharbeiten, Interviews mit Regisseur, Produzent und Hauptdarstellern sowie die 45-minütige Dokumentation Trennung von Staats wegen (2009) von Ulrike Brinker.
Filminhalt
Handlung
Jenseits der Mauer ist ein zeitgeschichtliches Drama. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wird Ulrich und Heike Molitor 1974 die Ausreise unter folgender Bedingung bewilligt: Ihr siebenjähriger Sohn Klaus darf mitkommen, ihre zweijährige Tochter Miriam dagegen nicht. Sonst drohen Gefängnis und die Zwangsadoption beider Kinder. 1989 lebt die Dreier-Familie in West-Berlin und versucht, Kontakt zu Miriam herzustellen, die bei ihren Adoptiveltern Susanne und Frank Pramann in Leipzig lebt. Dafür bespitzelt Heike ihren Mann. Vom Mauerfall können beide nicht einmal träumen.
Zentrale Figuren
Ulrich (Edgar Selge) und Heike Molitor (Katja Flint): Die Eltern von Miriam und Klaus sind zu Beginn des Films Mitte 30. Sie sind intellektuell, selbstbestimmt und beweisen Courage. Ulrich arbeitet als Ingenieur bei der Interflug. Für die Freiheit riskieren er und seine Frau alles. Der Verlust der Tochter belastet das Paar dann dauerhaft, auch wenn die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung unerschütterlich bleibt.
Miriam Molitor/Rebecca Pramann (Henriette Confurius): Als Zweijährige nach dem gescheiterten Fluchtversuch von den Pramanns adoptiert. Fortan heißt sie Rebecca und wächst in Leipzig auf. An ihre leiblichen Eltern erinnert sie sich nicht. Fotografiert gern, will reisen und wird zunehmend neugierig auf den Westen. Sie lernt Nils kennen, der von dort kommt, schöne Jeans trägt und besser riecht.
Susanne (Ulrike Krumbiegel) und Frank Pramann (Herbert Knaup): beide Mitte 40. Ein bodenständiges, herzliches und sympathisches Paar, das Rebecca ein liebevolles Zuhause bietet. Frank arbeitet bei der Stasi. Er nimmt seinen Beruf zwar ernst, möchte jedoch niemandem etwas zu Leide tun. Gegenüber seiner Frau muss er sich zunehmend rechtfertigen. Susanne ist Aktivistin. Sie fühlt sich in der DDR zu Hause, sieht die Regierung jedoch kritisch. Sie sympathisiert mit der Bürgerrechtsbewegung und wünscht sich einen demokratischen Sozialismus.
Brigitte Schröder (Renate Krößner): leitet das Kinderheim, in das Miriam vor ihrer Adoption kommt. Mit einem SED-Funktionär verheiratet. Sie wird gezwungen, in Miriams Namen Briefe der leiblichen Eltern zu beantworten. Die Lüge bereitet ihr ein schlechtes Gewissen. Brigittes Einstellungen und Vorlieben sind westlich. Sie glaubt nicht mehr an einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Als sie das Ende der DDR kommen sieht, sagt sie Familie Molitor die Wahrheit. Sie ist eine der ersten, die nach dem Mauerfall in die BRD eilt. Ihren Mann lässt sie fassungslos zurück.
Victor (Hanno Koffler): etwa 18, der beste Kumpel von Rebecca und ein Freund ihrer Adoptivfamilie. Er leistet seinen Wehrdienst, um später Medizin studieren zu können. Victor ist Teil der Bürgerbewegung, wünscht sich einen demokratischen Sozialismus und nimmt an Demonstrationen teil. Dadurch verliert er seinen Studienplatz. Gemeinsam mit Freunden plant er mehrfach, aus der DDR zu fliehen.
Gesellschaftsbild
Jenseits der Mauer zeigt eine DDR, die ihre Bürger auch dann nicht loslässt, wenn sie das Land verlassen. Ulrich und Heike sind auch in der BRD nicht frei. Sie vermissen ihre Tochter und spüren den langen Arm der Stasi – in den Briefen, die angeblich Miriam geschrieben hat, und bei der Bespitzelung in der Ehe. Dabei möchte keiner der beiden mit der DDR kungeln. Ulrich Molitor: „Sie kriegen diese Informationen nicht, nicht von mir. (...) Ich bin rüber, weil ich meine Kollegen nicht bespitzeln wollte, ich bespitzle meine Kollegen schon wieder“. Das Leben im Westen wird zwar nicht gezeigt, allein die vielen Fluchtversuche deuten aber an, dass es dort freier sein muss.
In der DDR sorgen sich die Menschen 1989 um ihre Zukunft. Die Loyalität beginnt selbst bei SED-Funktionären zu bröckeln. Brigitte Schröder: „Ich plane unsere Zukunft (...), das Ende der DDR. Es flüchten viel zu viele und die Russen helfen uns auch nicht mehr. (...) Ja, meinst du denn, dass wir dann weiterhin so schön leben werden wie jetzt, wo du noch bei der SED arbeitest? Hast du dir mal überlegt, wie die alle über uns herfallen werden? Wir, die SED-Bonzen?“ Der Vertrauensverlust in die Politik führt zu Spaltung und Familienstreit. Herr Schröder: „Ich dachte immer, du glaubst an den Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. In der Familie und im Freundeskreis sprechen die DDR-Bürger aus, was sie beschäftigt, und gestehen sich die Schwächen des Staates ein. Brigitte Schröder: „Keiner kann sagen, was er denkt. Wir haben keine freien Wahlen und die Nachbarn denunzieren sich gegenseitig. Nennst du das, mit menschlichem Antlitz? (...) Westfernsehen. Ich will wissen, was in Ungarn los ist. Unsere berichten darüber ja nicht.“
Der Westen ist für die Menschen eine Projektionsfläche ihrer Wünsche, sowohl in Sachen Konsum als auch politisch. Victor sagt zum „Wessi“ Nils: „Du kommst aus dem Westen, das sieht man“. Und Rebecca in einem Club: „Für Musik wird man hier nicht verhaftet“. Die Opposition will trotzdem keine Wiedervereinigung, sondern einen demokratischen Sozialismus. Susanne Pramann: „Ich will gar nicht woanders leben, ich will, dass sich hier etwas ändert“. Für den Menschenstrom, der nach der Maueröffnung ohne Zögern die Grenze überquert, gibt es folgerichtig auch Spott und Verachtung: „Sag mal, hast du denn keinen Stolz? Die werden euch alle aufkaufen, ihr werdet alle auf der Straße stehen. Millionenfach.“
Ästhetik und Gestaltung
Die Außenaufnahmen der DDR sind von einem gelben Dunst oder leichtem Nebel geprägt. Der Westen weist dagegen eine klare, weißliche Tönung auf. Die Straßen der DDR sind karg und trist. Die Stimmung ist trist. In den Häusern ist es dafür sehr gemütlich.
Die Kamera zeigt Familie Molitor im Westen oft aus der Distanz (Beobachtung!) und Familie Pramann im Osten aus der Nähe. Die Szenen am Grenzübergang werden von Bob-Marley-Musik umrahmt: Das Lied Jammin (1977) steht in Kontrast zu der angespannten Situation beim Fluchtversuch. Als Miriam nach dem Mauerfall ihren leiblichen Eltern begegnet, ist das Lied Is this Love (1978) zu hören. Jörn Meyn hat das in der taz als „Vorbote der Freiheit“ gedeutet.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Kostüme und historische Ausstattung tragen uns zurück in die Vergangenheit. Betonbauten, Überwachungsanlagen, die Grenzübergänge Helmstedt-Marienborn und Bornholmer Straße sowie die Grenzsoldaten mit den Kalaschnikows erzeugen eine stimmige Atmosphäre. Wir sehen Unser Sandmännchen, die Aktuelle Kamera mit Wolfgang Lippe und das Westfernsehen mit Harald Juhnke, die Durchtrennung des Grenzzauns in Ungarn, Günter Schabowski und die Massenszenen am Grenzübergang. Auch die Reformen Gorbatschows spielen im Film eine Rolle. West-Jeans, Club-Cola und die Musik geben dem Film ein authentisches Gesicht. Bei einer Familienfeier hören wir zum Beispiel Alt wie ein Baum von den Puhdys (1976) oder Jugendliebe von Ute Freudenberg (1989). Die Jugend der DDR tanzt zu Like a Prayer von Madonna (1989), The Look von Roxette (1988), This is not America von David Bowie & The Pat Metheny Group (1985) und Love is a shield von Camouflage (1989).
Henriette Confurius und Herbert Knaup haben schon in anderen DDR-Filmen mitgespielt: Confurius in Tannbach (2015) und in Die Wölfe (2009) und Knaup als Stasi-Beauftragter in Das Leben der Anderen (2006). Ulrike Krumbiegel ist die einzige Darstellerin aus dem Osten: Sie wurde 1961 in Berlin geboren. In einem Interview beschreibt sie das Jahr 1989 als eine Situation, die von totaler Ungewissheit geprägt war. Diese Gefühlslage werde im Film deutlich. Der Film gebe zwar einen begrenzten, dafür aber authentischen Einblick in das Leben in der DDR – vor allem über das Ehepaar Pramann. Edgar Selge sagte in einem Interview, den Film „aus eigenen Erinnerungen heraus gespielt zu haben“. Katja Flint habe mit einem Notar gesprochen, der zu DDR-Zeiten als Rechtsanwalt mit „ähnlichen Fällen zu tun“ hatte (ARD). Beide Schauspieler haben Verwandte im Osten. Hanno Koffler äußert im Making-of, er habe Freunde, die im Osten groß geworden sind und eine glückliche Kindheit erlebten. Erst später sei man in der DDR an Grenzen gestoßen. Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt sagte, er habe unter anderem im Spiegel-Archiv recherchiert. Dabei sei er auf viele Fallbeispiele gestoßen, die „zu einer Prämisse für das Buch verschmolzen“ seien. Historische Details habe er außerdem aus einem ausführlichen Gespräch mit Nadja Uhl gewonnen, die ihre Jugend in der DDR verbracht hat (Moviepilot).
Rezeption
Reichweite
Die Uraufführung gab es am 7. Juli 2009 in Rom auf dem Roma Fiction Fest. TV-Premiere war dann am 30. September 2009 im Ersten. Der Marktanteil lag bei 18,8 Prozent (Publikumsgröße: 5,83 Mio.). Wiederholungen gab es in Regional- und Spartenprogrammen. Außerdem gibt es eine DVD.
Rezensionen
In Focus Online und in der taz wurde Jenseits der Mauer als außerordentlich gefeiert: „ein Film also, der das allzu Naheliegende vom ersten Ton an vermeidet“, schrieb Josef Seitz in Focus Online. Das Thema Zwangsadoption belaste Betroffene bis heute. Jörn Meyn meinte in der taz, dass der Film „die gewohnte Seherfahrung des Zuschauers“ unterwandere. Auch Eckhard Fuhr attestierte dem Film in der Welt eine differenzierte Darstellung der DDR. Noch einmal Josef Seitz: „Und zwischen schwarz und weiß mischen sich immer mehr Grautöne“. Fuhr schrieb, dass das Privatleben vielschichtig dargestellt und nicht lediglich als „Resonanzboden der politischen Ereignisse benutzt“ werde. Meyn fand trotzdem Ost-West-Stereotype: „Wieder einmal verliebt sich das schöne Ost-Mädchen in einen Westler. Wieder einmal erscheint das Leben in der DDR als kalte, graue Tristesse“. Alle Autoren lobten die Emotionalität. Seitz: „ein hoch emotionaler deutsch-deutscher Film, der nie in Sentimentalität abrutscht“. Und Meyn: Der Film veranschauliche die „psychische Zerrissenheit einer Familie, die durch die brutale Willkür und die Verfolgungsparanoia des SED-Staats auseinandergetrieben wird und um den inneren Zusammenhalt ringt“. Fuhr stellte fest, dass die politische und historische Atmosphäre sowie die Emotionen authentisch abgebildet werden und für hohe Spannung sorgen.
Auszeichnungen
Der Film wurde für den Grimme-Preis 2010 nominiert. Edgar Selge gewann den Medienpreis Bambi in der Kategorie Schauspieler National, der 2009 im Zeichen des Mauerfalls verliehen wurde.
Erinnerungsdiskurs
Jenseits der Mauer gibt einen nuancierten Einblick in das Leben in der DDR. Dazu gehören Schicksale und Lebenswege sowie die zunehmende Unzufriedenheit, die Proteste und die Ausreisewelle 1989. Thematisch bedient der Film dabei das Diktaturgedächtnis. Die Zwangsadoption gilt als eines der schwersten Verbrechen der DDR. Der lange Arm der Stasi reicht bis in den Westen. Zugleich wird deutlich, dass der Anschluss an die Bundesrepublik selbst für die Unzufriedenen keine Option war. Man will einen demokratischen und libertären Sozialismus. Die Menschen sind in ihrem Land verwurzelt und leben eine Kultur, die mit dem Westen nicht vergleichbar ist. Erst die Perspektivlosigkeit und soziale Ungerechtigkeit bewirken, dass insbesondere junge Menschen, die keine Zukunft für sich sehen, aus der DDR fliehen.
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