Unsichtbare Jahre
Entstehungskontext
Beteiligte
Johannes Fabrick
Regisseur Johannes Fabrick wurde 1958 in Wien geboren und hat dort an der Filmakademie studiert (Drehbuch und Regie). Sein Debütfilm Bernhardiner & Katz (1997) wurde mit dem Erich-Neuberg-Preis, dem Fernsehpreis des Österreichischen Rundfunks, prämiert. 2004 bekam er den Romy für Schleudertrauma (2002) und 2013 den Grimme-Preis für Der letzte schöne Tag (2011). Mit Hauptdarstellerin Julia Koschitz arbeitete Fabrick vor Unsichtbare Jahrebereits mehrfach zusammen.
Hannah Hollinger
Die Drehbuchautorin Hannah Hollinger wurde im bayerischen Burgkirchen geboren. Hollinger wollte eigentlich Heilpädagogin werden, bekam dann aber ein ZDF-Stipendium zur Drehbuchförderung. Ihr Durchbruch war die ARD-Serie Aus heiterem Himmel (1995 bis 1999). Fernsehfilme und Serien blieben ihr wichtigstes Metier. Häufig arbeitete sie mit Matti Geschonneck zusammen, der bei den DDR-Filmen In Zeiten des abnehmenden Lichts (2017) und Boxhagener Platz (2010) Regie führte.
Ariane Krampe
Produzentin Ariane Krampe wurde 1961 in Hagen geboren. Schon während ihres Jura-Studiums arbeitete sie bei der Bavaria Film GmbH, wo sie nach dem Abschluss Produzentin wurde. Nach einer Zwischenstation bei der UFA gründete sie mit Nico Hofmann und Wolf Bauer die Produktionsgesellschaft teamWorx. Dort produzierte Krampe unter anderem die Filme Der Tunnel (2001), Die Luftbrücke – Nur der Himmel war frei (2005) und Die Mauer – Berlin ´61 (2005), für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Mit Drehbuchautorin Hannah Hollinger arbeitete sie bereits beim Grimme-Preisträger Grenzgang (2013) zusammen. 2013 wechselte Krampe in die Geschäftsführung der Zeitsprung Pictures GmbH, seit 2015 ist sie Geschäftsführerin der Ariane Krampe Filmproduktion GmbH.
Unsichtbare Jahre wurde von der Zeitsprung Pictures GmbH im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks produziert. Angaben über die Finanzierung und das Budget des Films sind nicht öffentlich einsehbar.
Unsichtbare Jahre wurde im Rahmen eines Themenabends „Spionage im geteilten Deutschland“ im Erstenerstausgestrahlt. Im Anschluss lief die Begleitdokumentation Westagenten für die Stasi. Zudem bietet Das Erste auf seiner Webseite ein Portal zum Film. Dort gibt es Interviews mit Hauptdarstellerin Julia Koschitz, Regisseur Johannes Fabrick und Drehbuchautorin Hannah Hollinger sowie Statements von Produzentin Ariane Krampe und Redakteurin Barbara Buhl.
Filminhalt
Handlung
Bea Kanter beginnt 1974 ein Studium der Volkswirtschaftslehre in Frankfurt am Main. Sie sympathisiert stark mit linken und sozialistischen Ideen, sehr zum Leidwesen ihres Vaters Norbert, eines CDU-Lokalpolitikers. Auch ihre Schwester Conny ist vom Vater stark entfremdet, da sie ihm nicht verzeihen kann, dass er eine Affäre mit seiner Sekretärin hatte, als ihre Mutter starb. Bea lässt sich noch während ihres Studiums vom Ministerium für Staatssicherheit rekrutieren. Sie zieht nach Köln und beendet ihr Studium, um später beim Auswärtigen Amt zu arbeiten, wo sie Informationen für die DDR liefert. Ihre Tarnung fliegt erst nach dem Mauerfall auf – durch einen gefälschten Pass, den sie einst in einer West-Berliner Straßenbahn verlor.
Zentrale Figuren
Bea Kanter (Julia Koschitz) – eine VWL-Studentin, die von linken und feministischen Ideen geprägt ist, sich von Männern fernhält und beginnt, für die DDR zu spionieren. Die Tätigkeit für die Staatssicherheit führt sie immer weiter in die Isolation. Darstellerin Julia Koschitz sagte, Bea sei „keine klassische Sympathiefigur“, und bezeichnete die Spionage für die DDR als Akt der Rebellion gegen den Vater und als „Stellvertreterkampf für ihre Mutter“.
Norbert Kanter (Friedrich von Thun) – CDU-Funktionär auf Kommunalebene und Vater von Bea und Conny. Die Mutter der beiden ist früh gestorben, Norbert selbst wird von seinen Töchtern beschuldigt, seine Frau zum Zeitpunkt ihres Todes mit seiner Sekretärin betrogen zu haben, was er allerdings nicht zugibt. Norberts Weltbild ist patriarchal und konservativ. So will er, dass Bea ihr Studium abschließt, und hat kein Verständnis für ihre linken Ideen, die er als „Anarchie“ bezeichnet. Die Sympathie für die DDR kann Norbert nicht akzeptieren. Genauso wenig Verständnis hat er für Conny, die sich ständig von ihren Partnern trennt. Die Zeit stimmt ihn schließlich milder: Als er Bea nach der Wiedervereinigung wiedersieht, ist er von der CDU und vor allem von Helmut Kohl desillusioniert und liebäugelt mit Oskar Lafontaine. Als Bea verhaftet wird, ist er geschockt.
Conny Kanter (Anna Julia Kapfelsberger) – Schwester von Bea und psychisch labiler. Sie stürzt sich von einer Beziehung in die nächste, wird aber mit keinem Mann glücklich. Einmal muss sie sogar mit ihren Töchtern bei Bea wohnen. Das Verhältnis der Schwestern bleibt trotzdem schwierig. Als Bea ihr von ihrer Stasi-Tätigkeit erzählt, glaubt sie ihr nicht.
Gesellschaftsbild
Obwohl Unsichtbare Jahre von Stasi-Spionage in der Bundesrepublik handelt, handelt es sich bei diesem Film in erster Linie um ein Beziehungs-Drama zwischen Tochter und Vater. Bea sieht die Bundesrepublik als Erweiterung ihres Vaters, als ein Land, das nach dem Krieg von den „Faschos“ der CDU zum Patriarchat gemacht wurde, voll mit spießigem Bürgertum. Das politische Gedankengut ihres Vaters lehnt Bea ab. Die DDR dagegen ist für Bea wegen ihrer Familienpolitik und ihrem feministisch geprägten Weltbild attraktiv.
Das Ministerium für Staatssicherheit wird in Unsichtbare Jahre als Domäne von männlichen Agenten dargestellt, die Bea erst überzeugen, für die DDR zu spionieren, und sie später betreuen. Da sie ihren ersten Ansprechpartner auch persönlich mag, sieht es so aus, als ob Bea nicht für eine Staatsmaschinerie arbeite. Was mit den Informationen passiert, sagt der Film nicht. Im Zentrum stehen stattdessen Beas seelische Belastung und ihre Isolation.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Im Abspann des Films wird klargestellt, dass alle Figuren erfunden sind. Man kann dort zugleich lesen, dass 12.000 Menschen in der Bundesrepublik für die DDR spioniert haben und dass 1.000 nach wie vor nicht enttarnt sind. Um die fiktive Geschichte einzuordnen, zeigte Das Erste im Anschluss an die Ausstrahlung die Dokumentation Westagenten für die Stasi.
Drehbuchautorin Hannah Hollinger sagte, dass sie zwar nicht mit Betroffenen gesprochen habe, aber „viel über die Thematik gelesen und Dokumentationen“ gesehen habe. Produzentin Ariane Krampe und Redakteurin Barbara Buhlzufolge sind Hauptfigur und Handlung Folge einer „intensiven Recherche“ und „eine Verschmelzung vieler unterschiedlicher Erlebnisberichte, Artikel und veröffentlichter Stasi-Akten“. Regisseur Johannes Fabrick: „Man liest Bücher, schaut Dokumentarfilme. Es gibt zum Beispiel sehr aufschlussreiche (Foto-)Bücher über die Stasi-Methoden.“
Alle Hauptrollen sowie die meisten Nebenrollen sind mit Schauspielern und Schauspielerinnen besetzt, die nicht in der DDR geboren oder aufgewachsen sind. Auch die Produzentin, Drehbuchautorin und der Regisseur haben nicht in der DDR gelebt.
Rezeption
Reichweite
Die Erstausstrahlung erfolgte am 25. November 2015 im Ersten. Die GfK-Daten: 3,77 Millionen Zuschauer und 12,1 Prozent Marktanteil. Die Dokumentation Westagenten für die Stasi kam auf 2,72 Millionen Zuschauer. Unsichtbare Jahre wurde seitdem mehrfach in Spartenkanälen und Regionalprogrammen der ARD ausgestrahlt.
Rezensionen
Unsichtbare Jahre wurde in den Leitmedien für seine apolitische Haltung kritisiert. So schreibt Heike Hupertz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung): „Im Mittelpunkt steht der Vater-Tochter-Konflikt, das ‚Psychodrama‘ des sich verlassen geglaubten Kindes. Das ist dann doch, trotz ansehnlicher Bilderbogenoptik aus sechzehn Jahren Bundesrepublik und DDR (1974 bis 1990), zu wenig des Guten. Um Politik geht es nur sehr am Rande. Die RAF etwa gibt es gar nicht. Zweifel an Beas Haltung sind im Film nicht vorgesehen. Stattdessen landet er punktgenau als unpolitische Schmonzette“. Renate Meinhof war in der Süddeutschen Zeitung etwas versöhnlicher: „Der Film Unsichtbare Jahre ist insofern ein Wagnis, als dass er sich Stille erlaubt, Langsamkeit, das Ausleuchten der Psyche einer unsicheren, einsamen Frau. (...) Trotz des politischen Themas ist Unsichtbare Jahre ein unpolitischer, manchmal fast kammerspielartiger Film, dem es gelingt, weitgehend auf Klischees zu verzichten und ein Stück deutsch-deutscher Alltäglichkeit zu erzählen: Es waren ja mehr als zwölftausend DDR-Spione im Westen unterwegs. Rainer Tittelbach sieht Analogien zwischen Hauptfigur Bea und der DDR: „Unsichtbare Jahre erzählt von einem zerrissenen Leben, von der ‚Unfähigkeit, eine tragende lebensbejahende Beziehung einzugehen‘ (Fabrick), es ist ein Stationen-Drama über 16 Jahre ohne Entwicklung, ohne Utopie, ohne Hoffnung. Damit spiegelt sich im Schicksal der Heldin auch ein Stück weit das Schicksal der DDR.“
Erinnerungsdiskurs
Unsichtbare Jahre bietet einen Einblick in das Innenleben einer Westagentin der Stasi, bleibt dabei aber unpolitisch. Kern des Films ist ein Familiendrama und nicht die Spionage. So fällt es schwer, Aussagen über die DDR festzuhalten. Nur der Abspann bietet einen Link zum Diktaturgedächtnis. Für den Erinnerungsdiskurs spielt der Film folglich eine untergeordnete Rolle.
Empfehlung
Empfehlung des Autors
Unsichtbare Jahre hätte das Potenzial gehabt, die Motive einer West-Agentin zu analysieren. Bea Kanter bleibt aber in ihrer rebellischen Phase und stützt ihr Leben auf den ungelösten Konflikt mit dem Vater. Hier wurde die Chance verpasst, ein spannendes Psychogramm zu zeichnen, stattdessen wird Einheitsware im DDR-Mantel serviert.
Empfohlene Zitierweise