Verlorene Landschaft
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Wissenschaftliche Aufarbeitung
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung des Autors
- Literatur
Entstehungskontext
Beteiligte
Kleinert wurde 1962 in Berlin geboren, war Volontär und Ausstattungsassistent bei der DEFA und studierte ab 1984 Regie in Babelsberg. Seine Diplomarbeit schrieb er über Andrej Tarkowski. Zu seinen Filmen gehören Wege in die Nacht (1999), Klemperer – Ein Leben in Deutschland (1999) und Freischwimmer (2008). Über Verlorene Landschaft sagte er im Neuen Deutschland: „Ich biete Bilder an, in denen zwar meine Wertung, meine Beurteilung steckt, aus deren sinnlicher Überfülle sich aber auch jeder das seine herauslesen darf“.
Verlorene Landschaft wurde von der Joachim von Vietinghoff & Vietinghoff Filmproduktion GmbH im Auftrag des ZDF produziert. Der Namensgeber wurde am 8. Mai 1941 in München geboren, arbeitete zunächst als Bildjournalist und stieg dann in die Filmproduktion ein. Seine Firma gründete er 1972. In der Filmografie stehen über 70 Titel. Einige liefen in Cannes oder auf der Berlinale und gewannen Preise.
Filminhalt
Handlung
Elias ist im Osten aufgewachsen. Seine Eltern haben die Geburt geheim gehalten und unterrichten ihn zuhause. Elias darf das Grundstück nicht verlassen und hat kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Sein einziger Freund wird an der Grenze erschossen. Als Elias 18 ist, flieht er in den Westen und wird dort Politiker. Nach dem Mauerfall hört er, dass seine Eltern tot seien. Er macht sich in seine Vergangenheit auf, trifft dort die noch lebenden Eltern und verändert seine Sicht auf Kindheit und Jugend.
Zentrale Figuren
Elias (Leo Wittrien, Frank Stieren, Roland Schäfer): Wächst als Kind auf einem kleinen Hof in einer ländlichen Gegend im Osten auf. Flieht später in den Westen und wird dort Politiker.
Vater (Sylvester Groth, Christoph Engel): Wird eines Tages von zwei Männern mitgenommen und kehrt erst Jahre später nach Hause zurück.
Mutter (Friederike Kammer, Christine Gloger): Liegt mit Elias am Ende des Krieges in den Wehen. Zieht ihren Sohn mit ihrem Mann isoliert von der Außenwelt groß.
Gesellschaftsbild
Verlorene Landschaft lässt sich als Parabel interpretieren. Elias wächst isoliert auf – ohne Kontakt zu den Menschen hinter dem Gartenzaun. Je älter er wird, desto unerträglicher wird sein Gefängnis, auch wenn Vater und Mutter nur sein Bestes wollen und den Jungen schützen möchten. Als junger Mann flieht Elias zwar in den Westen, doch die Vergangenheit und vor allem die Beziehung zu seinen Eltern kann er nicht hinter sich lassen. Eine wirkliche Auseinandersetzung ist allerdings erst nach dem Mauerfall möglich. Regisseur Andreas Kleinert im Neuen Deutschland: „Im Vergleich zu anderen Nach-Wende-Filmen ostdeutscher Regisseure entdecke ich in Verlorene Landschaft keine pauschale Schuldzuweisung an die Eltern, die Lehrer, die Stasi, die einen Menschen, ein Land kaputtgemacht haben. Diese Art Pauschalisierung hängt mir zum Hals heraus. Viele jener Filme wurden sehr aus der Distanz erzählt, mit extremen Polarisierungen von Gut und Böse. So, als ob wir nicht alle beteiligt gewesen wären an dem, was die DDR ausmachte. Meine Figuren sollten dagegen in sich widerspruchsvoll sein. Ich hoffe, dass die Zuschauer in Verlorene Landschaft keine Schemen und Sprachrohre, sondern Charaktere finden.“
Eine der Schlüsselszenen ist das Ende: Elias spricht als Politiker im Fernsehen. Seine Botschaft: „dass wir nicht nur staatliche Grenzen überwinden und öffnen, sondern auch unsere persönlichen Grenzen, unsere inneren Grenzen. Es liegt an jedem Einzelnen von uns.“ Es gibt Applaus und der Elias im Fernsehen lächelt befreit, während der Elias vor dem TV-Apparat erst lacht und bald weint. Vor Freude? Aus Trauer? Das Publikum muss diese „bestimmte Unbestimmtheit“ (Preußer 2020) selbst füllen und für sich entscheiden, wie er die deutschen Staaten sehen will.
Ästhetik und Gestaltung
Das Bild folgt der Entwicklung des Helden. In den ersten 17 Minuten hat Verlorene Landschaft Farbe. Als Elias seine totgeglaubten Eltern wiedertrifft, wechselt der Film ins Schwarz-Weiße. Erst am Ende, als Elias (Achtung: Spoiler!) Vater und Mutter tot im Elternbett findet, wechselt der Film wieder ins Farbige. Die letzten Szenen: Elias frühstückt, repariert das Dach, wie er es seinen Eltern versprochen hatte, putzt das Gästezimmer und verlässt sein Elternhaus. Die Eltern sieht er in seiner Vorstellung friedlich auf der Bank vor dem Haus sitzen.
Ebenfalls bemerkenswert ist das Zusammenspiel von Musik und Geschehen: Mehrmals sind bedrohlich anschwellende Streichinstrumente zu hören, während wir Halluzinationen sehen. Verlorene Landschaft hat in diesen Momenten etwas von einem Horrorfilm – Elias und seine Kindheit.
Außerdem interessant: ein Käfer als Symbol. Elias kippt ihn aus einem Glas auf den Schreibtisch und sagt: „Komm, lauf!“ Während sich die Kamera wegbewegt, hört man den Jungen singen: „Flieg, Käfer, flieg! Dein Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt. Flieg, Käfer, flieg!“ Später sehen wir, wie Elias den Käfer mit einer zähen Flüssigkeit (womöglich Honig) übergießt, bevor die Mutter ihn von seinem Treiben wegreißt: Zwei Männer sind gekommen und durchsuchen das Haus nach dem Jungen. Die Mutter versteckt ihn in einer Truhe auf dem Dachboden. Erst zum Schluss ändert sich die Lage: Als Elias seine toten Eltern findet, krabbelt ein kleiner Käfer über die Bettdecke. Elias öffnet das Fenster und befreit ihn. Während die Kamera über Käfer und Eltern zum Fenster und schließlich hinaus auf die Wiese fährt, wird das Bild wieder farbig. Auch der Gartenzaun ist jetzt verschwunden. Zäune oder Mauern haben ausgedient.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Verlorene Landschaft ist ein Gleichnis und kein Versuch, die Vergangenheit möglichst originalgetreu nachzubauen. Regisseur Kleinert im Neuen Deutschland: „Vielmehr interessiert mich die Nähe von Traum und Wirklichkeit. Der ganze Film ist ja Legende, Erinnerung und manchmal Traum. Diese Erzählhaltung erlaubt mir einen viel freieren Umgang mit dem historischen Material, als wenn ich eine quasi authentische Gestaltungsweise gewählt hätte. Zeitgeschichtliche Erfahrungen kann ich so zugespitzter und mutiger einbringen“.
Rezeption
Reichweite
Verlorene Landschaft wurde auf dem Festival Internacional de Cine in San Sebastián sowie bei den Internationalen Hofer Filmtagen uraufgeführt. Die Erstausstrahlung im Fernsehen erfolgte am 6. Dezember 1992 im ZDF. Ab dem 28. Oktober 1993 war der Film im Kino zu sehen. Außerdem nahm Verlorene Landschaft 1999 an den Internationalen Filmfestspielen von Cannes teil.
Rezensionen
In den wenigen Kritiken wurde der Film überaus positiv aufgenommen. Die Redaktion von TV-Spielfilm und TV-Today bewerten den Film als „kunstvoll, sensibel und top gespielte“ „Trauerarbeit“. Das Neue Deutschland hat weitere Kritiken zusammengefasst, die Verlorene Landschaft als eine „Parabel mit fast hypnotischer Intensität“, als Werk „voller „expressionistischer Kraft“ und „unirdischer Zärtlichkeit“ loben.
Auszeichnungen
Der Film gewann den Adolf-Grimme-Preis in der Kategorie Kamera und wurde auf dem Schweriner Filmfest ausgezeichnet. Von der Deutschem Film- und Medienbewertung (FBW) gab es das Prädikat „wertvoll“. In der Begründung der Jury heißt es: „Der Bewertungsausschuss hat dem Film mit 3:1 Stimmen das Prädikat wertvoll erteilt. Mit großer Sorgfalt, Ruhe und in bewährter Spieltradition erzählt der Film von der Reise eines Mannes in seine Kindheit. Vorgetragen wird die Geschichte mit anspruchsvoller Bedeutungsschwere und in gestelzter Erhabenheit. In teils pathetisch überzogener und feierlicher Manier werden Dialoge zelebriert. Ungereimtheiten, wie die Telefonzentrale bei ‚Staatsfeinden‘, irritieren, und auch die Realitätsebene mit den zu stark aufgesetzten Spielmomenten macht den gewünschten Effekt überdeutlich, überzeugt aber nicht. Jedoch sind Pathos und Ungereimtheiten auch als bewusstes Stilmittel und der Geschichte außerordentlich angemessen interpretierbar. Dramaturgisch überzeugend gelöst sind die Rückblenden auf Kindheitserlebnisse. Die Kameraführung zeichnet sich durch Einfallsreichtum aus“.
Wissenschaftliche Aufarbeitung
Roger F. Cook (2008: 70) hat Verlorene Landschaft in den Kontext der Nachwendeproduktionen von DEFA-Regisseuren gestellt und darauf hingewiesen, wie schwer sich Andreas Kleinert, Andreas Dresen oder Olaf Kaiser mit dem kommerziellen Durchbruch getan haben. Während West-Regisseure mit Filmen wie Go Trabi Go (1991) oder Wir können auch anders (1993) auf „Beziehungskomödien“ und „Heimathumor“ gesetzt hätten, seien ihre Ostkollegen mit Kunstfilmen wie Verlorene Landschaft (1992), Nachtgestalten (1999) oder Wege in die Nacht (1999) an der Kinokasse gescheitert. Evelyn Preuss (2004: 122) ist dem Einfluss des Medienboards Berlin-Brandenburg auf die Kulissenwahl nachgegangen. Vor 1995 hätten Filme die neue, alte Hauptstadt auf „verräterisch offensichtliche Weise“ umgangen – darunter auch Verlorene Landschaft.
Erinnerungsdiskurs
Verlorene Landschaft wird als Gleichnis gesehen. Nach dem Mauerfall gelingt es einem Flüchtling, mit seiner Kindheit im Osten und mit seinen Eltern reinen Tisch zu machen. Der Film entzieht sich bewusst jeder Bewertung. Andreas Kleinert wollte uns keine Geschichtsstunde geben, sondern zum Nachdenken anregen. Obwohl er damit bei den Kritikern ankam, ist die Wirkung des Films schon wegen des eher überschaubaren Publikums begrenzt.
Literatur
Roger F. Cook: Nostalgic Travels through Space and Time: Good Bye, Lenin! In: Christina Lee (Hrsg.): Violating Time. London: Bloomsbury Academic 2008, S. 70-87
Evelyn Preuss: The Collapse of Time: German History and Identity in Hubertus Siegert’s Berlin Babylon (2001) and Thomas Schadt’s Berlin: Sinfonie einer Großstadt (2002). In: Carol Anne Costabile-Heming, Rachel J. Halverson, Kristie A. Foell (Hrsg.): Berlin – The Symphony Continues. Berlin: De Gruyter 2004, S. 119-142
Heinz-Peter Preußer, Sabine Schlickers: Genre-Störungen. Irritation als ästhetische Erfahrung im Film. Marburg: Schüren 2019
Heinz-Peter Preußer: Bestimmte Unbestimmtheit. Offene Struktur und funktionale Lenkung in Literatur und Film. Universität Bielefeld. Wintersemester 2020.
Empfohlene Zitierweise