Nikolaikirche
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Wissenschaftliche Aufarbeitung
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung der Autorin
- Literatur
Entstehungskontext
Beteiligte
Frank Beyer, 1932 geboren im thüringischen Nobitz, ist einer der wichtigsten DEFA-Regisseure. Sein Film Spur der Steine (1966) wurde kurz nach der Uraufführung verboten. Er arbeitete für Fernsehen und Theater, setzte dann aber nach 1990 seine Kinokarriere fort (DEFA-Stiftung). Der Süddeutschen Zeitung sagte Beyer, er habe bei der Produktion von Nikolaikirche keinerlei Genugtuung empfunden, fühle sich jedoch „legitimiert, einen Stoff wie diesen zu inszenieren“ (Pflaum 1995: 19).
Das Drehbuch zu Nikolaikirche entstand in der Zusammenarbeit von Regisseur Frank Beyer, Eberhard Görner und Erich Loest, dem Autor der gleichnamigen Buchvorlage. Der 1944 geborene Eberhard Görner, der wie Beyer und Loest aus der DDR stammt, studierte Germanistik und Geschichte sowie Regie und Dramaturgie. Zunächst arbeitete er als Lehrer, ab 1970 wechselte er in die Filmbranche und war seither als Autor und Filmemacher tätig.
Erich Loest, 1926 in Mittweida geboren, war Journalist, Schriftsteller und zunächst überzeugtes SED-Mitglied. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 machte aus ihm einen Regimegegner. Loest wurde 1957 aus der SED ausgeschlossen und zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. 1981 siedelte er in die Bundesrepublik über (LeMO). Seine Erfahrungen in der DDR und in Bautzen hat er unter anderem im Roman Durch die Erde ein Riss (1981) verarbeitet. Der Roman Nikolaikirche erschien 1995 parallel zur Verfilmung und erlangte so bundesweite Aufmerksamkeit. Die Reaktionen der Fachpresse waren gemischt. Während das Neue Deutschland den Roman als „prägnantes und facettenreiches Zeitbild“ beschreibt, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Stadler 1995: 42), das DDR-Bild sei stark vereinfacht und die Geschichte fantasielos.
Nikolaikirche ist eine Gemeinschaftsproduktion von ORF, MDR, WDR, Arte und Provobis unter der Geschäftsleitung von Jürgen Haase. Haase ist ein renommierter westdeutscher Filmproduzent, der unter anderem für das öffentlich-rechtliche Fernsehen sowie die Firmen Tellux und Progress gearbeitet hat.
Es wurden keine Angaben zu Förderinstitutionen und Fördersummen veröffentlicht.
Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls ist der Film 2009 auf DVD erschienen (Icestorm Entertainment). Zum Bonusmaterial gehören Biografien und Filmografien von Frank Beyer, Erich Loest und dem cast, ein Trailer sowie ein Interview mit Nikolaikirchen-Pfarrer Christian Führer zum Herbst 1989.
Filminhalt
Handlung
Leipzig 1988: Nach dem überraschenden Tod von Albert Bacher, Gründervater der DDR und General der Staatssicherheit, driften die Mitglieder seiner Familie auseinander. Tochter Astrid, Architektin bei der Stadtplanung, bekommt Depressionen, weil sie öffentlich die Tochter des SED-Patriarchen spielen muss, aber innerlich schon lange nicht mehr überzeugt ist vom Sozialismus. Ihr Bruder Alexander arbeitet dagegen bei der Staatssicherheit und versucht dort, das Erbe seines Vaters fortzuführen.
In der Nikolaikirche gibt es jeden Montag Friedensgebete, geleitet von Pfarrer Ohlbaum. Hier sammeln sich immer mehr Menschen, die unzufrieden sind und sich nicht länger den Vorgaben des Staates beugen wollen. Die Veranstaltungen werden von der Stasi überwacht und von immer größeren Polizeiaufgeboten begleitet. Als am 9. Oktober 70.000 Leute auf dem Leipziger Ring marschieren, finden sich Astrid und ihr Bruder auf unterschiedlichen Seiten wieder.
Zentrale Figuren
Astrid Protter (Barbara Auer) – arbeitet als Architektin bei der Stadtplanung, ihr Vater Albert war General der Stasi. Sie sieht Stadt und Staat in sich zusammenfallen und möchte das nicht länger hinnehmen.
Alexander „Sascha“ Bacher (Ulrich Matthes) – Astrids jüngerer Bruder, arbeitet bei der Stasi und klettert dort die Karriereleiter nach oben. Er wird beauftragt, das Geschehen rund um die Nikolaikirche zu beobachten.
Marianne Bacher (Annemone Haase) – Witwe von Albert und Mutter von Astrid und Alexander. Linientreu. Versucht, das Andenken ihres Mannes zu wahren, auch wenn die Ehe weniger glücklich war, als es nach außen schien.
Pfarrer Ohlbaum (Ulrich Mühe) – Pfarrer der Nikolaikirche, möchte die Menschen in ihrem Glauben unterstützen und organisiert deshalb die Montagsgebete. Dabei betont er stets: „Wir wollen Dialog, keine Gewalt.“
Zum weiteren Kreis der Familie gehören Astrids Ehemann Harald (Daniel Minetti) sowie Tochter Silke (Julia Braun). Harald hält sich mit seinen politischen Ansichten eher bedeckt, steht allerdings immer auf der Seite seiner Frau. Silke tritt gleich zu Beginn als rebellische Teenager-Tochter auf, die sich weder von ihren Eltern noch vom Staat etwas vorschreiben lassen will.
Gesellschaftsbild
Nikolaikirche zeigt die DDR als zerrissene Gesellschaft, in der sich die Parteien immer unversöhnlicher gegenüberstehen. Der Riss geht dabei sowohl durch die Familie Bacher als auch durch eine Stadt, in der die Sicherheitsorgane Menschen gegenüberstehen, die an Montagsgebeten und Demonstrationen teilnehmen.
Schlüsselfiguren der Familie sind die Geschwister Astrid und Sascha. Ihre Beziehung ist nicht besonders eng, aber freundlich. Als Sascha von der Krankheit seiner Schwester erfährt, besucht er sie und redet mit ihr über ihre Arbeit. Das Verhältnis kühlt ab, als der Stasioffizier Astrid bei den Montagsgebeten sieht. Beide sind auch innerlich zerrissen. Astrid muss sich entscheiden: Soll sie weiter die treue Sozialistin spielen und in der Stadtverwaltung Studie um Studie unterschreiben? Oder folgt sie ihrem Gewissen und spricht sich öffentlich gegen die Zustände aus? Sascha dagegen muss zwischen seiner Arbeit und den Menschen wählen, die er liebt. Seine Mutter: „Du bist immer im Dienst? Auch, wenn deine Mutter einen alten Freund trifft?“
Derselbe Konflikt teilt die Stadt. Bei Montagsgebeten und Demonstrationen stehen sich Staat und Bürgerschaft gegenüber. Die Staatssicherheit nutzt ihre Macht, um Widerstand schon im Keim zu ersticken. Sie lässt beobachten, abhören, verhaften und schickt immer mehr Bewaffnete. Die Begründung: „Zurückhaltung der staatlichen Organe wird als Schwäche interpretiert.“
Ästhetik und Gestaltung
Die DDR in Nikolaikirche ist farb- und freudlos. Die Bilder werden dominiert von Grau- und Brauntönen. Die Häuser in Leipzig sind baufällig, die Stadtverwaltung kaschiert diesen Umstand jedoch mit geschönten Studien. Das Land wird dabei von der Industrie vergiftet: Man sieht Bilder einer verödeten Landschaft, von einer Schwelerei und von rauchenden Kraftwerken.
Besonders deutlich wird die Übermacht des Staates, als eine nicht genehmigte Kundgebung durch die Volkspolizei beendet wird. Den rund 30 Aufmüpfigen stehen mindestens doppelt so viele schwer bewaffnete Polizisten gegenüber. Die Menschen fliehen querfeldein durch den Nebel und werden dort eingekesselt. Die Bedrohlichkeit der Situation wird durch die Bilder unterstützt: Höhengefälle und eingeschränkte Sicht, untermalt von dramatischer Musik.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche sind in die Geschichte eingegangen. Das historische Vorbild von Pfarrer Ohlbaum heißt Christian Führer (1943 bis 2014). Familie Bacher ist dagegen erfunden worden (von Erich Loest). Bei der Produktion wurde großer Wert auf Authentizität gelegt. Man hat Originalnachrichten von ARD und ZDF genutzt und entsprechende Requisiten verwendet (etwa einen Pkw Wartburg). Gedreht wurde an Originalschauplätzen in Leipzig und Umgebung (auch in der „echten“ Nikolaikirche), in Berlin und in Potsdam. Der Cast stammt zu einem guten Teil aus der DDR (Ulrich Mühe oder Annemone Haase). Die Hauptdarsteller Barbara Auer (Astrid) und Ulrich Matthes (Sascha) sind Westdeutsche. Beide sagten aber im Neuen Deutschland, dass sie sich durch Lektüre und Gespräche eingehend vorbereitet hätten.
Frank Beyer achtete zudem darauf, dass viele Leipziger unter den Kleindarstellern und Komparsen waren. DerSüddeutschen Zeitung sagte er, dass er in einigen Szenen überhaupt keine Anweisungen habe geben müssen, „weil sich die Leute erinnerten und alles emotional noch einmal nachvollzogen“ (Pflaum 1995: 19). Interviews mit Pfarrer Christian Führer, die im Zusammenhang mit dem Film gezeigt werden (bei der TV-Erstausstrahlung und als DVD-Bonusmaterial), tragen ebenfalls zur Glaubwürdigkeit von Nikolaikirche bei.
Rezeption
Reichweite
Der Film Nikolaikirche wurde in zwei Versionen produziert: Die Fernsehfassung in zwei Teilen dauert insgesamt rund 180 Minuten und wurde am 17. Oktober 1995 erstmals auf Arte ausgestrahlt. Wenige Tage darauf wurde der Film im Ersten gezeigt (Teil 1 am 25. und Teil 2 am 27. Oktober 1995) und seither immer wieder im Regionalprogramm wiederholt.
Die kürzere Kinofassung (133 Minuten) wurde am 9. Oktober 1995 in Leipzig und am 10. Oktober 1995 in Berlin voraufgeführt (Neues Deutschland). Offizieller Kinostart war am 25. Januar 1996 (Provobis). Reichweitendaten wurden nicht veröffentlicht.
Rezensionen
Die Reaktionen waren unterschiedlich, aber insgesamt eher positiv. Süddeutsche Zeitung, SPIEGEL, Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Neues Deutschland verbuchten Frank Beyers Literaturverfilmung als vollen Erfolg. So schildert beispielsweise Hans-Jörg Heims (1995: 19) in der Süddeutschen Zeitung den Film als „präzise und dazu spannend inszeniert“. Für Michael Hanfeld (1995: 39) von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war Nikolaikirche ein „historisches Epos, dem die Gratwanderung zwischen Dokumentation und Erzählung gelingt“. Im Neuen Deutschland hob Sigrid Kuhn die Darstellung der Stasi als „undämonisch, frei von Hysterie und ziemlich realistisch“ hervor.
Ebenso eindeutig urteilten Die Zeit und Die Welt – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Für Barbara Sichtermann war Nikolaikirche „ein zähes, unspezifisches, hochtrabendes Lehrstück ohne Lokalkolorit und Zeitstimmung“ (Die Zeit). Nicolaus Sombart von Die Welt lobte zwar Handlung, Dialoge und Rollenzuschreibungen, das alles verblasse jedoch hinter einer falschen Darstellung der DDR und verkomme durch „protestantische Gesinnungssalbaderei und Umweltgerede“ zu bloßem Wendekitsch.
Auszeichnungen
Nikolaikirche wurde mit folgenden Auszeichnungen prämiert (Provobis, DEFA):
- DAG-Fernsehpreis in Silber für das beste Drehbuch
- Prädikat „wertvoll“ durch die deutsche Film- und Medienbewertung
- Fernsehspiel „Stern des Jahres 1995“, Abendzeitung München
Wissenschaftliche Aufarbeitung
Frank Beyers Nikolaikirche wurde kaum wissenschaftlich aufgearbeitet. Meist wird der Film in einer Reihe mit vielen anderen Filmen über die DDR oder als eines von vielen Werken Frank Beyers genannt, aber nicht weiter untersucht. In den Publikationen von Kristie Foell (2001) und Gerhard Lüdeker (2012) geht es um Nikolaikirche und den Erinnerungsdiskurs im Film.
Erinnerungsdiskurs
Im Zentrum von Frank Beyers Nikolaikirche steht der Konflikt zwischen Staat und aufmüpfiger Bürgerschaft. Diesen Konflikt gibt es auf allen Ebenen: in einzelnen Personen, in der Familie und in der Stadt. Mit seinem Fokus auf Staatssicherheit und Volkspolizei gehört der Film eindeutig zum Diktaturgedächtnis. Auch das Ende (die Demonstration am 9. Oktober 1989) folgt dem hegemonialen Erzählmodus über die DDR: der Herbst 1989 als glücklichen Endpunkt (Sabrow 2019). Da die Handlung zumindest teilweise auf wahren Begebenheiten beruht, viele Ostdeutsche an der Produktion beteiligt waren und sich die Filmschaffenden um Authentizität bemühten, wird Nikolaikirche als glaubwürdig und wichtig wahrgenommen.
Literatur
Kristie Foell: History as Melodrama: German Division and Unification in Two Recent Films. In: Carol Anne Costabile-Heming, Rachel J. Halverson, Kristie A. Foell (Hrsg.): Textual Responses to German Unification. Processing Historical and Social Change in Literature and Film. Berlin, New York: de Gruyter 2001, S. 233-253.
Michael Hanfeld: Kerzen und Gebete. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Oktober 1995, S. 39.
Hans-Jörg Heims: So war es wirklich. In: Süddeutsche Zeitung vom 30. Oktober 1995, S. 12.
Gerhard Lüdeker: Kollektive Erinnerung und nationale Identität. Nationalsozialismus, DDR und Wiedervereinigung im deutschen Spielfilm nach 1989. München: Edition Text + Kritik 2012.
Hans Günther Pflaum: Als der Staatsmacht das Rückgrat brach. In: Süddeutsche Zeitung vom 25. Oktober 1995, S. 19.
Martin Sabrow: „1989“ als Erzählung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69. Jg. (2019), S. 25-33.
Empfohlene Zitierweise