Führer Ex
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Wissenschaftliche Aufarbeitung
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
- Literatur
Entstehungskontext
Beteiligte
Winfried Bonengel wurde 1960 im bayerischen Werneck geboren, studierte an der Pariser Filmhochschule und war zeitweise Dozent an der Filmakademie Baden-Württemberg für den Bereich Drehbuch. Sein filmischer Schwerpunkt ist das Thema Rechtsradikalismus. Er ist unter anderem für den Dokumentarfilm Beruf Neonazi (1993) verantwortlich, in dem er Ewald Althans begleitet. Um den Film gab es einen öffentlichen Streit, in dem Bonengel fehlende Distanz vorgeworfen wurde (Ox-Fanzine). Ein Jahr zuvor entstand der Dokumentarfilm Wir sind wieder da (1992), in dem Bonengel das Leben des ehemaligen Ostberliner Neonazi-Führers Ingo Hasselbach beleuchtet. Führer Ex (2002) ist Bonengels Spielfilm-Kinodebüt.
Führer Ex geht auf das Buch Die Abrechnung – Ein Neonazi steigt aus von Ingo Hasselbach und Winfried Bonengel (1993) zurück. Hasselbach war Gründer und Führer der Nationalen Alternative, bevor er der rechten Szene 1993 den Rücken kehrte und die Organisation Exit gründete, die Rechtsradikalen den Ausstieg erleichtern soll. Er kam mit 19 Jahren in ein DDR-Gefängnis und dort in Kontakt mit der rechten Szene: „Diese Leute haben unseren Hass auf die DDR und den verordneten Antifaschismus verstanden. Sie haben versucht, uns in ihre Richtung zu drücken. Das waren die ersten Ansätze“ (Stern). Hasselbach stammt aus einer „stark kommunistischen Familie“. Seine Eltern waren Funktionäre und sein Vater ein „richtiger Hardcore-Stalinist“, der wegen seiner Ideale in den Osten geflohen sei (Hasselbach 2020). Zur Filmografie von Douglas Graham, der ebenfalls am Drehbuch mitgewirkt hat, gehört das dokumentarische Filmdrama Tag der Abrechnung – Der Amokläufer von Euskirchen (1994), bei dem es um einen Bombenanschlag auf ein Amtsgericht geht.
Der Film wurde von Clementina Hegewisch und Laurens Straub produziert. Beide sind Geschäftsführer der Next Film Filmproduktion (Straub bis zu seinem Tod 2007). Neben Führer Ex produzierten sie zwei weitere Filme mit DDR-Bezug: den Dokumentarfilm Klaus Kuron – Spion in eigener Sache (2004) und den Kurzfilm Detektive (2006), der Spionageaktivitäten aus den 1980er Jahre aufgreift.
Der Film hatte ein Budget von knapp über zwei Millionen Euro. Produktion und Verleih wurden auch mit öffentlichen Mitteln gefördert:
Produktionsförderung |
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Medienboard Berlin-Brandenburg |
357.900 € |
FFA-Filmförderungsanstalt |
409.000 € |
Mitteldeutsche Medienförderung |
511.300 € |
Verleih- und Vertriebsförderung |
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44.000 Euro |
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FFA-Filmförderungsanstalt |
100.000 Euro |
Weitere Förderentscheidungen |
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Medienboard Berlin-Brandenburg |
35.800 € |
Das Filmplakat zeigt die Hauptcharaktere Heiko und Tommy und eine der Anfangsszenen, in der beide auf die Zeitung Neues Deutschland und Erich Honecker urinieren. Auf dem Plakat steht: „Nach einer wahren Geschichte“. Auf YouTube gibt es einen Trailer. Die Stiftung Lesen hat den Film in ein Projekt gegen Rechtsextremismus aufgenommen, empfiehlt ihn für Schuldstunden zum Thema und spricht von einem „Appell zur Abkehr von rechtsradikaler Gewalt verpackt in eine bewegende Freundschaftsgeschichte“.
Filminhalt
Handlung
Führer Ex erzählt von den Freunden Heiko und Tommy, die von einem Leben in Freiheit träumen und die DDR hassen. Eines Nachts wird Tommy erwischt, als er in einem Fußballstadion eine Flagge anzündet. Er kommt ins Gefängnis, lernt dort rechtsradikale Häftlinge kennen und wird mit kurzem Haar, NS-Tätowierungen und dem Wunsch nach einem Leben in Australien entlassen. Er überzeugt Heiko von diesem Plan, aber beide werden an der Grenze geschnappt. Im Gefängnis schließt sich Tommy wieder den Neonazis an, um vor den anderen Häftlingen in Sicherheit zu sein. Heiko hingegen sucht zunächst Schutz bei Hagen, einem älteren Häftling. Als Hagen ihn vergewaltigt, helfen die Neonazis und holen Heiko so in ihre Gruppe. Das ist aber noch nicht alles: Nach einem weiteren Vergewaltigungsversuch kommt Heiko in Isolationshaft. Um ihn dort herauszuholen, wird Tommy IM. Nach dem Mauerfall lebt Heiko im Hauptquartier der Deutschen Nationalen Partei (DNP), sieht Tommys Stasi-Akte und soll den vermeintlichen Verräter töten, bringt das jedoch nicht übers Herz. Aus dem Australien-Traum wird trotzdem nichts. Was Heiko nicht konnte, erledigen die anderen Neonazis.
Zentrale Figuren
Heiko Degener (Christian Blümel) – ein junger Mann, der trotz anfänglicher Bedenken mit seinem Freund Tommy in die Freiheit fliehen möchte. Er ist sensibel und hat mit den Umgangsformen im Gefängnis zu kämpfen. Nach einer Vergewaltigung dreht er in Isolationshaft durch, sucht Schutz bei Neonazis und wird einer von ihnen.
Tommy Zierer (Aaron Hildebrand) – ein oft aggressiver junger Mann, der schnell die Regeln des Gefängnisses verinnerlicht und zum eigenen Schutz Anschluss bei Neonazis sucht. Er fühlt sich in der DDR eingesperrt und sieht keinen grundsätzlichen Unterschied zum Knast. Für seinen besten Freund wird er zum „Stasi-Verräter“ und begreift am Ende, dass (rechte) Gewalt zu verabscheuen ist.
Heiko und Tommy verbindet eine tiefe Freundschaft. Sie teilen den Wunsch nach Freiheit und eine rebellische Haltung. Beide interessieren sich nicht für Politik oder das öffentliche Leben, trinken in den Tag hinein und sehen die DDR als ein Land, das ihnen rein gar nichts zu bieten hat.
Gesellschaftsbild
Führer Ex zeigt eine DDR, die Heiko und Tommy das Gefühl gibt, einsperrt zu sein. Dieses Land versteht die beiden jungen Männer nicht und bietet ihnen statt einer Perspektive nur ein tristes Leben ohne Ambitionen. Im Gefängnis sind die sozialen Beziehungen streng hierarchisch. Vor allem die Langzeitinsassen haben nichts mehr zu verlieren und stellen ihre eigenen Bedürfnisse weit über die ihrer Mitmenschen. Auch die Staatsmacht hat hier keinen Zugriff. Die Wärter bleiben passive Randgestalten. Die beiden Freunde werden Neonazis, weil der Staat versagt und sie Schutz vor gewaltsamen Übergriffen und sexuellem Missbrauch brauchen. Die Stasi interessiert sich nicht für das, was Heiko und Tommy passiert, sondern nur für die Neonazi-Szene im Gefängnis. Sie bietet Tommy einen Deal an, der ihn am Ende das Leben kostet – als es mit der DDR und der Stasi längst vorbei ist.
Ästhetik und Gestaltung
Licht und Farbe passen zur dramaturgischen Entwicklung. Die bunten, grellen Töne des Anfangs, die jugendlichen Leichtsinn untermalen, werden ernster und kühler. Die Szenen im Gefängnis sind trist und grau und erzeugen zunehmend Ablehnung und Ekel.
Regisseur Bonengel sagte dem Ox-Fanzine, dass er am liebsten Original-Musik aus den 1970er und 1980er Jahren gehabt hätte (etwa EMI (1977) von den Sex Pistols), das Budget dies aber nicht hergegeben habe. Zu hören ist so mehrfach Musik der Band MIA: Auferstanden aus Ruinen (2002), Ekelhaftes Benehmen (2002) und Alles neu (2002). Bonengel meinte, dass das Zeitgefühl von Damals „für den normalen Zuschauer“ trotzdem nicht verloren gehe.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Der Film erhebt den Anspruch, eine wahre Begebenheit zu erzählen. Dem Ox-Fanzine sagte der Regisseur allerdings, dass die Autobiografie von Ingo Hasselbach (1993) nicht spannend genug für einen Kinofilm gewesen sei. Hasselbach sei weder Heiko noch Tommy. Die Atmosphäre wirkt durch die Requisiten authentisch. Neben der Musik helfen vor allem der Kleidungsstil, die Inneneinrichtung der Wohnung von Heikos Mutter und die Originalfilmsequenzen zu Beginn des Films, das Publikum in die 1980er Jahre zu versetzen.
Laurens Straub setzte sich dafür ein, die beiden Hauptrollen mit unbekannten Schauspielern zu besetzen. Winfried Bonengel im Ox-Fanzine: Der Film sei authentischer, „wenn man unschuldige Darsteller“ habe, weil er „ja auch von Verlust und Unschuld“ erzähle. Den Stasi-Offizier spielt Matthias Freihof, der im Kultfilm Coming Out (1989) eine Hauptrolle spielte. Coming Out war der erste DEFA-Film, der Homosexualität in den Mittelpunkt rückte.
Rezeption
Reichweite
Die Uraufführung fand am 31. März 2002 bei den Filmfestspielen in Venedig statt. Außerdem lief der Film auf folgenden Festivals: Internationales Filmfestival Toronto (2002), Filmfestspiele Philadelphia (2002), Berlinale (2003), Bogota Filmfestival (2003). Am 5. November 2002 startete Führer Ex in den deutschen Kinos und wurde insgesamt in 123 Kinos gezeigt. Der Film verkaufte 32.763 Tickets und landete 2002 auf Rang 67 und 2003 auf Rang 71 der nationalen Jahreshitliste. Seit 2006 wurde Führer Ex mehrfach im Free-TV ausgestrahlt, jedoch nie zur Primetime, sondern erst nach Mitternacht. Der Film ist als DVD erhältlich und kann gestreamt werden.
Rezensionen
Die Leitmedien haben den Film eher ignoriert. Peter Zander attestierte Führer Ex in der Welt, viel zu wollen: „die Ursprünge für den nach dem Mauerfall aufflammenden Rechtsradikalismus im Osten ergründen. Mit der diskussionswürdigen These, dass die DDR, die ihr ganzes Selbstverständnis aus dem Antifaschismus ableitete, dem Neofaschismus letztlich Vorschub leistete.“ Zander verstand den Film als eine „Geschichte der kontinuierlichen Isolierung, Demütigung und Brechung einer Persönlichkeit“, kritisierte aber die Filmsprache von Bonengel, der zuvor nur Dokumentationen und keine Spielfilme gemacht hatte. Die jungen Hauptdarsteller seien teilweise „gänzlich überfordert“ gewesen. Fazit: gut gemeint, aber ein „Versteher-Film“.
In der Süddeutschen Zeitung meinte Tobias Kniebe, Führer Ex sei weder „besonders clever oder gar elegant“. Der Film leiste sich „eine Direktheit, die sich sonst nur B-Filme erlauben“. Kniebe monierte die fehlende Differenzierung, die Eindimensionalität der Charaktere, aber auch die vereinfachte Darstellung von Ursache und Wirkung. Möglicherweise hätten sich Bonengel und Hasselbach nach jahrelanger Arbeit mit rechten Jugendlichen aber bewusst gegen einen Film entschieden, der auf Zuspruch bei Kritikern und Fernsehredakteuren treffe. Vielleicht sei es den beiden ja um ein ganz anderes Publikum gegangen („auf der Straße vielleicht“) – um Köpfe, die der herrschende Diskurs nicht mehr erreiche.
Ulrich Behrens lobte auf der Seite Filmstarts vor allem, dass die zunehmende Sympathie von Heiko und Tommy für die Neonazis plausibel sei: ein problematisches soziales Umfeld, politisches Desinteresse in Verbindung mit jugendlicher Rebellion, Selbstschutzmechanismen und die Projektion von eigenen Ängsten auf „Andersartige“. Behrens kritisierte jedoch die schnellen Wechsel zwischen den Motiven, durch die „die ganze Gefängnisgeschichte eher zu einer Szenerie“ gerate, die herhalten müsse, „um der Geschichte Auftrieb zu geben“. Die Funktionäre würden hier wie „klischeehafte Gallionsfiguren der DDR-Staatsmacht“ wirken.
Auszeichnungen
Führer Ex wurde von der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) mit dem Prädikat wertvoll ausgezeichnet. In der Begründung wird die „glaubwürdige Rekonstruktion deutscher Geschichte“ genannt, „die auch vor bis an die Grenze des Erträglichen gehende Gewaltdarstellungen“ nicht zurückschrecke. Vor allem die stimmige Milieuzeichnung, Ausstattung und Kostüme sowie die Leistung der beiden Hauptdarsteller hätten großen Einfluss auf die authentische Atmosphäre. Allerdings kritisierte die FBW die Figur Heiko, da es hier an schlüssigen dramaturgischen und psychologischen Zusammenhängen fehle, um seine Entwicklung nachvollziehen zu können. Außerdem wird die Musik beanstandet. Ihr „Pathos“ untergrabe „die Wirkung des Dramas“.
Wissenschaftliche Aufarbeitung
In der Forschung fand der Film nahezu keine Beachtung. Lediglich im kanadischen Filmjournal Ciné-Bulles gab es eine Besprechung. Richard Bégin (2004) sieht den Film hier als Versuch Bonengels, auf jegliche Art von Poesie zu verzichten und stattdessen eine direkte, offene und dokumentarische Annährung an das Thema vorzunehmen. Der Film scheitere jedoch, da die Geschichte primär von Schwarzweißmalerei geprägt sei.
Erinnerungsdiskurs
Führer Ex zeigt eine DDR im Diktaturmodus (vgl. Sabrow 2009: 18). In diesem Land regiert ein Geheimdienst, der das Bedürfnis nach Informationen (zur Neonaziszene) über das Leben eines jungen Mannes stellt. Diese DDR hat keinen Platz für Aussteiger wie Heiko und Tommy. Die beiden rebellieren, fühlen sich eingesperrt und landen im Gefängnis, wo sie zu Neonazis werden. Das heißt auch: Die DDR ist zumindest nicht unschuldig an dem Rechtsruck der 1990er Jahre. Bonengel sagte im Ox-Fanzine, er habe zeigen wollen, dass diese Entwicklung bei Tommy und Heiko nichts mit politischen Motiven zu tun hatte: „In der DDR glaubte ja niemand an Hitler, das war denen vollkommen egal. Was ich in dem Film erklären wollte, war, dass das aus einem tiefen Hass und einer tiefen Resignation heraus geschehen ist und nicht aus einer politischen Überzeugung.“ Die beiden Freunde finden auch nach dem Mauerfall keinen Platz in der Gesellschaft. Rettung scheint nur Australien zu bieten (auch wenn es nicht mehr dazu kommt).
Literatur
Richard Bégin: Review of Führer Ex de Winfried Bonengel. In: Ciné-Bulles 22. Jahrgang (2004), S. 56-57
Ingo Hasselbach (mit Winfried Bonengel): Die Abrechnung. Ein Neonazi steigt aus. Gütersloh: Bertelsmann 1993
Martin Sabrow: Die DDR erinnern. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München: C. H. Beck 2009, S. 11-27
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