Vaterlandsverräter
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Wissenschaftliche Aufarbeitung
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung der Autorin
- Literatur
Entstehungskontext
Beteiligte
Annekatrin Hendel (geboren 1964 in Berlin) wuchs in der DDR auf und arbeitete nach einem Designstudium ab 1987 freiberuflich als Kostüm- und Szenenbildnerin für Theater und Film. In ihren Dokumentarfilmen geht es oft um die DDR. Mit Fantasie gegen den Mangel (2008) beschäftigt sich zum Beispiel mit der Jugendkultur und Familie Brasch (2018) mit dem Spannungsfeld zwischen Politik und Kultur.
Diese Ausrichtung hat die Regisseurin auch mit ihrer ganz persönlichen Geschichte begründet. Da ihr Vaterland (die DDR) verschwunden ist, wolle sie durch Filme über Menschen und Schicksale einen neuen Zugang zu ihrer Heimat finden. Vaterlandsverräter sei „kein Enthüllungs- oder Rechtfertigungsfilm, sondern einer über die Zerrissenheit eines deutschen Literaten, der mit seinen Werken durchaus prägend wirkte“ (Vaterlandsverraeter.com).
Vaterlandsverräter ist eine Koproduktion von Hendels Firma IT WORKS! Medien, ZDF und ARTE. Produzentin war Holly Tischmann, die auch bei Fantasie gegen den Mangel (2008) mit Annekatrin Hendel zusammengearbeitet hat.
Förderinstitution |
Fördersumme |
37.189 € |
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30.000 € |
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25.000 € |
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10.000 € |
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6.000 € |
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Nipkow-Programm (nicht im Abspann genannt) |
Nicht veröffentlicht |
German Films |
Nicht veröffentlicht |
Vaterlandsverräter hat eine Website, wo es neben dem Trailer Biografien von Paul Gratzik und den Beteiligten gibt. Dazu kommen ein Regiekommentar von Annekatrin Hendel sowie eine Fotogalerie und eine Sammlung von Pressestimmen. Eine Übersichtsseite mit ähnlichem Inhalt sowie News über Sonderaufführungen oder Sendetermine im Fernsehen sind auf der Website von IT WORKS! Medien zu finden. Außerdem gibt es eine Facebook-Seite.
Zur Uraufführung auf der Berlinale 2011 wurde eine Broschüre herausgegeben. Zum Kinostart im Oktober 2011 gab es ein Gespräch zwischen Annekatrin Hendel und Susanne Ehlerding in Planet Interview.
Seit April 2012 gibt es Vaterlandsverräter auf DVD (Salzgeber & Co. Medien).
Filminhalt
Handlung
Annekatrin Hendel besucht den Schriftsteller Paul Gratzik in der Uckermark und begleitet ihn über ein halbes Jahr lang in seinem Alltag, zum Beispiel beim Augenarzt oder bei einem Besuch seiner Tochter in Dresden. Die Erzählungen des Schriftstellers und die Aussagen ehemaliger Freunde und Bekannter blicken auf Leben und Person: Paul Gratziks Jugend, seine ersten Kontakte in Künstlerkreise, seine Karriere als Schriftsteller. Im Zentrum stehen aber Gratziks Tätigkeit für die Staatssicherheit, seine Selbstenttarnung und die Schwierigkeiten einer Regisseurin, selbst mit viel Aufwand diesen Teil der Biografie erschließen zu können.
Zentrale Figuren
Paul Gratzik, DDR-Schriftsteller aus ärmlichen Verhältnissen, lange Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit und später selbst Beobachtungsobjekt.
Hansgeorg Hering, Freund und Kollege von Gratzik. Erzählt von der gegenseitigen Überwachung in Künstlerkreisen.
Renate Biskup, Opernsängerin und Geliebte von Paul Gratzik. Liest Ausschnitte aus Stasiberichten vor und erfährt so, dass Gratzik auch über sie berichtet hat.
Günter Wenzel, Stasioffizier und Kontaktmann von Paul Gratzik.
Gesellschaftsbild
Vaterlandsverräter lebt von den Erinnerungen der Protagonisten und zeigt, wie ambivalent der Rückblick auf die DDR ausfallen kann. Paul Gratzik war einerseits ein überzeugter Kommunist und hofft immer noch, dass der sozialistische Gedanke in den jüngeren Generationen weiterlebt. Die DDR, sagt er, wurde von der BRD erobert, aber „die Eroberer übernehmen die Kultur des eroberten Landes, […] das schwirrt in der Luft und es interessieren sich immer mehr junge Leute dafür.“ Gleichzeitig lehnt Gratzik heute jede Form der Überwachung ab. Die Bespitzelung und sein Zutun hätten ihn immer „gebissen und gewurmt“, vor allem nachdem er festgestellt habe, dass die „Stasi Wünsche hatte, wie etwas zu sein hat.“ In seinen Berichten sollte er irgendwann nicht mehr nur Beweise sammeln, sondern im Verdachtsfall „die Wirklichkeit formen.“
Renate Biskup sieht das ähnlich. Es habe gereicht, anderer Meinung zu sein als die SED, um von der Staatssicherheit beobachtet zu werden: „Brauchen Sie bloß noch irgendeine Formulierung gebracht zu haben, dann sind Sie zum Staatsfeind“ erklärt worden. Vor allem der Zugriff auf Freundes- und Bekanntenkreise sei „geistiger Inzest der Stasi, auf dreckigste Art und Weise.“ Der Stasi-Kontaktmann sagt dagegen, Gratzik habe richtig gehandelt, weil er die staatlichen Interessen über seine persönlichen Bedürfnisse gestellt habe.
Ästhetik und Gestaltung
Der Film ist sehr ruhig. In Vaterlandsverräter gibt es keine Off-Stimme. Der Film lebt von den Personen und von dem, was sie erzählen. Hin und wieder werden Malereien eingeblendet und manchmal auch Musik oder Hintergrundgeräusche. So erzählt Gratzik beispielsweise von einem rauschendem Theaterabend, bei dem sein Stück Malwa aufgeführt wurde. Dazu gibt es ein Bild, das eine Menschenmenge in einem Theaterfoyer zeigt, während ein junger Paul Gratzik eine breite Treppe hinuntersteigt. Untermalt wird das Bild mit dem Gemurmel der Menge, Gläserklirren und Applaus. Ein anderes Bild zeigt ein Treffen zwischen Gratzik und seinem Stasioffizier aus der Vogelperspektive. Die düsteren Farben und die tiefen Schatten unterstreichen den zwielichtigen Charakter der Stasispionage.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Die ästhetische Gestaltung macht Vaterlandsverräter hochgradig authentisch. Da die Aussagen stets unkommentiert bleiben, wirken sie unmittelbar und frei für die Interpretation. Hinzu kommt, dass viele der Aufnahmen in privaten Räumen gedreht wurden, beispielweise in Gratziks Haus in der Uckermark, und so direkte Einblicke in das Leben ermöglichen.
Neben diesen Aufnahmen werden Dokumente und Bilder gezeigt, die aus offiziellen und privaten Archiven stammen, darunter zum Beispiel Aufnahmen von Gratzik und seiner Tochter oder Fotos von Theateraufführungen seiner Stücke. Folgende Archive wurden für dem Film herangezogen:
· Archive: Bundesbeauftrage für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen deutschen demokratischen Republik (BSTU), Rotbuch-Verlag, Rotbuch-Archiv
· Fotoarchive: Akademie der Künste, DEFA Spektrum, Hans Otto Theater Potsdam, Arvid Lagenpusch, Grischa Meyer
· Private Fotoarchive: Paul Gratzik, Antje Mauksch, Ernstgeorg Hering, Thomas Ruschin, Renate Biskup, Gabriele Dietze, Pierre Radvanyi
Rezeption
Reichweite
Vaterlandsverräter wurde am 13. Februar 2011 auf der Berlinale uraufgeführt. Am 20. Oktober 2011 lief er in zwölf deutschen Kinos an und kam in der ersten Woche nach Kinostart auf 1.152 verkaufte Tickets (inside-kino.de). Die Erstausstrahlung im Fernsehen erfolgte am 20. März 2012 auf Arte.
Rezensionen
Das Urteil über Vaterlandsverräter in den Medien fällt fast durchweg positiv aus. Besonders hervorgehoben werden dabei die Einblicke in die Arbeit der Staatssicherheit. Fokke Joel schrieb in seiner Rezension für die ZEIT: „Vaterlandsverräter beginnt die Staatssicherheit zu historisieren, aber auch das Bild von ihr zu differenzieren. Es ist ein wichtiger Film, mit einem neuen Blick auf das Thema.“ Ähnlich auch das Urteil von Sascha Keilholz auf Critic.de. Für ihn hat Annekatrin Hendel „einen Stoff gefunden, der weit über das Porträt hinausgeht, der in seiner Wurzel viel über Funktionsweisen innerhalb der DDR sagt.“
In der Berliner Zeitung lobte Ralf Schenk das „vielschichtige Porträt“ Vaterlandsverräter als den „bislang besten filmischen Gegenentwurf zu Das Leben der Anderen.‘“ Einzig Rudolf Worschech schlägt in seiner Rezension für epd einen etwas kritischeren Ton an. Zwar erkennt er Vaterlandsverräter als „widersprüchliches Porträt“ an, was typisch für Biografien von DDR-Intellektuellen sei, die für die Stasi gearbeitet haben – „aber eine wirkliche Einsicht in ihre Triebfedern liefert es nicht.“
Auszeichnungen
Vaterlandsverräter wurde mit folgenden Preisen ausgezeichnet:
· „Bester Dokumentarfilm“ auf dem Filmfestival Augenweide 2011
· Friedenspreis der Stadt Osnabrück 2011
· Publikumspreis auf dem Neiße Filmfestival 2012
· Adolf-Grimme-Preis in der Kategorie „Information & Kultur“ 2013
Wissenschaftliche Aufarbeitung
In zwei Aufsätzen untersucht Alison Lewis (2016, 2018) am Beispiel von Vaterlandsverräter, welchen Stellenwert Stasi-Akten und Selbstzeugnisse im gesellschaftlichen Erinnern an die DDR einnehmen.
Erinnerungsdiskurs
Vaterlandsverräter ist das Porträt eines komplizierten Menschen mit einem ebenso komplizierten Leben. Der Film über den Schriftsteller und Stasi-IM Paul Gratzik verliert sich dabei nicht in Schwarz-Weiß-Malerei. Gratzik wird trotz Spionage im engsten Bekanntenkreis nicht zum Bösewicht gemacht, sondern als Mensch mit allen seinen Widersprüchen gezeigt.
Dabei changiert Vaterlandsverräter zwischen den Erinnerungstypen, die Martin Sabrow (2009) idealtypisch unterschieden hat. Mit dem Stasi-Thema bedient der Film zwar das Diktaturgedächtnis, das Leben des Schriftstellers und sein Umgang mit diesem Thema sprechen aber zugleich für ein Arrangement mit den Gegebenheiten und für ein Weiterleben der Sozialismus-Utopie. Durch die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst konnte Gratzik relativ ungehindert als Autor tätig sein und musste nicht befürchten, dass seine Stücke verboten werden. Dies änderte sich schlagartig nach seiner Selbstenttarnung. Dieses besondere Arrangement zwischen Kunst und Staatssicherheit war für die DDR offenbar nicht ungewöhnlich. Zeitzeuge Hansgeorg Hering berichtet, dass das gegenseitige Ausspionieren in Künstlerkreisen zu manchen Zeiten fast flächendeckend war und weit über die Person Gratzik hinausging.
Literatur
Alison Lewis: Confessions and the Stasi Files in Post-Communist Germany: The Modest Scales of Memory and Justice in Traitor to the Fatherland. In: Australian Humanities Review 59. Jg. (2016), S. 209-222
Alison Lewis: Dichtung und Wahrheit eines Stasi-Informanten in Annekatrin Hendels Dokumentarfilm Vaterlandsverräter (2012). In: Monatshefte 110. Jg. (2018), S. 216-229
Martin Sabrow: Die DDR erinnern. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München: C.H. Beck 2009, S. 11-27
Empfohlene Zitierweise