Wendezeit
Entstehungskontext
Beteiligte
Sven Bohse wurde 1977 in Tübingen als Sohn von Jörg Bohse geboren, langjähriger Vorsitzender der deutschen Ost-West-Gesellschaften, in der DDR aufgewachsen und später nach Westdeutschland emigriert. Sohn Sven hat Amerikanistik, Philosophie und neuere deutsche Literatur in Tübingen und später Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert. Über Wendezeit sagt Bohse: „Es hat mich interessiert, den Mauerfall und seine Auswirkungen aus der Perspektive einer ostdeutschen Spionin zu erzählen, deren Existenz durch die politischen Umwälzungen ins Wanken gerät“. Zu seinen Projekten gehören neben Tatort-Folgen der Fernsehmehrteiler Ku‘damm (2016 bis 2018).
Silke Steiner studierte ebenfalls an der Filmakademie Baden-Württemberg (Schwerpunkt Drehbuch). Über den Bohse-Film sagte sie: „Mit Wendezeit habe ich einen etwas anderen Eventfilm zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls geschrieben. Das liegt am Genre 'Spionagethriller' und an der Verschiebung des gängigen Blickwinkels. Denn unsere Hauptfigur erlebt diesen Tag nicht als Befreiung, sie hat Angst vor der Zukunft“.
Wendezeit wurde von der MOOVIE GmbH produziert, gegründet 1996 von Oliver Berben und seit 1999 eine Constantin-Tochter. Die Berliner Produktionsfirma will „für hochkarätige und quotenstarke fiktionale Formate im deutschen Fernsehen“ stehen. Über Wendezeit sagte Produzentin Heike Voßler: „Ich bin sehr stolz auf unseren Film. Alle Beteiligten, ob Cast, Team oder Redaktion haben gespürt, dass wir an etwas Besonderem arbeiten und haben gemeinsam genau das daraus gemacht“.
Wendezeit bekam mit Fördergeldern in Höhe von 570.000 €.
70.000 € als Erfolgsdarlehen (2018) |
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500.000 € Produktionsförderung (2018) |
Film und Soundtrack gibt es digital oder analog als DVD und CD. Da Wendezeit ein Fernsehfilm ist, wurden keine Trailer oder Poster produziert. Dafür gibt es Themenseiten beim Ersten sowie vom RBB, die den Anspruch auf Authentizität untermauern: Hier finden sich Making-ofs und ausführliche Hintergrundinformationen zur Entstehung des Films sowie zu den „Rosenholz“-Dateien, auf die sich der Film bezieht. Außerdem erzählen die Beteiligten, warum sie mitgewirkt haben. Regisseur Sven Bohse: „Mein Vater ist in der DDR aufgewachsen, kam mit 14 Jahren in die Bundesrepublik und wurde Zeit seines Lebens immer wieder mit Ablehnung seiner politischen Einstellung konfrontiert, die von einer glücklichen Kindheit im Sozialismus geprägt wurde. (…) Ich habe mir oft die Frage gestellt, wie er über die DDR gedacht hätte, wenn er dort geblieben wäre. Einen ähnlichen Konflikt hat auch die Hauptfigur Saskia.“
Filminhalt
Handlung
Saskia Starke arbeitet als Doppelagentin der Stasi für die CIA. Sie hat von der Hauptverwaltung Aufklärung (Auslandsnachrichtendienst der Stasi) eine BRD-Identität bekommen, um den Klassenfeind auszuspionieren, und lebt mit Ehemann (nichtsahnend) und zwei Kindern in West-Berlin. Nach dem Mauerfall fürchtet Saskia, dass ihre Tarnung auffliegt. Im Osten werden die Akten geöffnet und bei der CIA sucht ihr Chef nach einem Maulwurf. Verkompliziert wird die Situation durch ihre Tochter, die sich in einen ostdeutschen Punker verliebt. Als Saskia auffliegt, hilft ihr eine Doppelagentin des KGB. In Rückblenden erzählt der Film von Saskias Ausbildung bei der Stasi und ihrer Vergangenheit in der DDR.
Zentrale Figuren
Saskia Starke/Tatjana Leschke (Petra Schmidt-Schaller): In ihren Vierzigern. Arbeitet als Doppelagentin der Stasi für die CIA. Ist mit dem Westdeutschen Richard Starke verheiratet und lebt mit ihm und den beiden Kindern in West-Berlin. Überzeugte Sozialistin.
Richard Starke (Harald Schrott): Anfang, Mitte 50. Ehemann von Saskia. Weiß nichts von dem Leben seiner Frau als Doppelagentin. Sucht Saskias angebliche westdeutsche Heimat auf und stellt Nachforschungen an. Schützt seine Frau, nachdem er erfährt, dass sie ihn belogen hat.
Jeremy Redman (Ulrich Thomsen): Ende 50, Anfang 60. CIA-Chef in West-Berlin. Spezialist für Spionageabwehr. Wurde geholt, um einen Maulwurf aufzuspüren. Scheitert bei dem Versuch, die Doppelagenten zu enttarnen.
Kai-Uwe Henning (Alexander Beyer): Mittvierziger und Stasi-Oberst. Wird von Saskia nach dem Mauerfall für die CIA rekrutiert. Soll ihre „Rosenholz“-Akte beschaffen.
Markus Wolf (Robert Hunger-Bühler): 66 Jahre alt. Historische Figur. Leitete von 1952 bis 1986 die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), den Auslandsnachrichtendienst der DDR. Ansprechpartner und „Ziehvater“ von Saskia bei der Stasi.
Gesellschaftsbild
Wendezeit erlaubt einen Vergleich zwischen Ost und West. Während die Starkes in einem großen, schön eingerichteten Haus im Westen Berlins leben, sind selbst hochrangige Mitarbeiter der Stasi in Plattenbauwohnungen untergebracht. Kein Zweifel: Die Marktwirtschaft ist der Planwirtschaft überlegen. Sonst könnte Saskia die Frau von Oberst Henning nicht mit schönen West-Kleidern bestechen.
Saskia ist allerdings auch in der vermeintlich „freien“ westdeutschen Gesellschaft unfrei. Hier ihre Familie, dort die DDR mit einem „Gemeinschaftsgefühl“, das sie vermisst. Auch am Schluss sagt Saskia noch, dass sie an den Sozialismus glaubt, aber nicht an den, „der gerade gescheitert ist“. Als ihr Mann von „Mangelwirtschaft“ spricht, wirft sie ihm „neoliberales Gerede“ vor. Auch die Stasi kommt in diesem Film nicht zu schlecht weg – jedenfalls nicht im Vergleich mit der CIA, wo nach einem Maulwurf gefahndet wird und weniger Reformwillen vorhanden zu sein scheint als im Osten, personifiziert hier durch die Figur von Markus Wolf, der am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz spricht (dort allerdings ausgepfiffen wurde).
Stütze der Gesellschaft ist die Familie. Als Markus Wolf mit Saskia spricht, wird Systemtreue nicht (wie in Agentenfilmen eigentlich üblich) über das Wohl der Familie gestellt. Saskias Vater, ebenfalls Stasi-Offizier, verurteilt sie zunächst zwar dafür, Kinder mit Richard bekommen zu haben (weil sie das angreifbar mache), schaut am Ende aber auf das Bild seiner Enkel und sagt sichtlich gerührt: „Gut gemacht!“
Ästhetik und Gestaltung
Wie für Agentenfilme typisch, nutzt der Film dunkle und nüchterne Farben. Die Farbpalette ist in Ost und West identisch. Eine Ausnahme ist die Rede von Markus Wolf auf dem Alexanderplatz, für die Original-TV-Material genutzt wurde. Dadurch wirkt die Farbpalette grünlicher, blasser und grauer als im restlichen Film.
Das Intro ist sehr aufwendig. Man sieht dort viele Bilder, die auf den Film einstimmen: die Aktenöffnung, Kampfjets, einen Lügendetektortest, Helmut Kohl und Ronald Reagan. Dazu läuft spannungsgeladene Musik. All das lässt sich als Hommage an die US-Serie The Americans (2013 bis 2018) deuten, die ein ähnliches Thema behandelt.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Filmimmanente Strategien
Eine fiktionale Geschichte inspiriert durch wahre Begebenheiten. Die beruflichen und privaten Handlungen und Dialoge aller Figuren, auch derer, die auf historischen Vorbildern beruhen, sind fiktiv und frei erfunden.
Diese Sätze werden sowohl vor der ersten als auch nach der letzten Szene gezeigt. Das heißt: Der Film nimmt die historischen Ereignisse ernst. Das erklärt, warum Original-Aufnahmen von der Markus-Wolf-Rede auf dem Berliner Alex eingebaut wurden. Dem Making-of zufolge wurde neben Originalschauplätzen wie dem Alexanderplatz auch in Babelsberg gedreht.
Filmtranszendente Strategien
Wendezeit war der Jubiläumsfilm der ARD zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Auf der Themenseite sagt Drehbuchautorin Silke Steiner, dass sie einen „etwas anderen Eventfilm“ schaffen wollte. Den Anspruch, ein authentisches DDR-Stück zu produzieren, untermauern auf diesem Portal auch Regisseur Sven Bohse und Produzentin Heike Voßler sowie die Talkshow Spione im Kalten Krieg – Gefährliches Doppelleben, in der Sandra Maischberger mit Lilli Pöttrich (DDR-Agentin im Auswärtigen Amt), Gerhardt Baum (FDP, ehemaliger Bundesinnenminister), Eberhard Fätkenheuer (CIA-Spion in der DDR), John Kornblum (ehemaliger US-Botschafter) und Bodo Hechelhammer (Chefhistoriker des BND) sprach. Die Sendung wurde direkt nach der TV-Premiere von Wendezeit am 2. Oktober 2019 im Ersten ausgestrahlt.
Rezeption
Reichweite
Mit einer Reichweite von 4,29 Millionen kam Wendezeit am 2. Oktober 2019 im Ersten auf einen Marktanteil von 15,1 Prozent. Zuvor gab es Aufführungen auf dem Festival des Deutschen Films in Ludwigshafen (21. August 2019) und bei moving history – Festival des historischen Films Potsdam (29. September 2019).
Rezensionen
Die Rezensionen fielen gemischt aus. Oliver Jungen kam in der FAZ zu einem positiven Fazit: „Alles in allem kann dieser Thriller, der so wunderbar und oft auch freihändig unterhält, der also der Wende weder das alte Befreiungsnarrativ überstülpt noch die simple Gegenthese aufstellt, über die große Identitätskrise nach dem Zusammenbruch des Gleichgewichts der Ideologien vielleicht mehr aussagen als so mancher bitterernste Zeitgeschichtsfilm.“ Matthias Dell dagegen warf dem Film in der Zeit vor, das Leben der Doppelagentin Saskia auf die banale Frage der „richtigen Familie“ (Staat vs. Mann und Kinder) zu reduzieren. Wendezeit sei folglich „kein Thriller, sondern Familienkitsch“. Christian Buß war im Spiegel ausgewogener, auch wenn die Überschrift das nicht ahnen lässt („Missglückter Spionagethriller – Der Klassenfeind in meinem Bett“). Seine Kritikpunkte: Es habe dem Stoff nicht gutgetan, auf ein zweistündiges TV-Ereignis gekürzt worden sei. Der Ursprungsplan (eine Serie) wäre besser gewesen. Buß empfahl folgerichtig Produktionen wie The Americans (2013 bis 2018), Deutschland 83 (2015 bis 2020) oder Zwei Leben (2012), wenn man sich dem kalten Krieg im Genre des Agentenfilms nähern wolle.
Auch die Fachmedien bewerteten Wendezeit ähnlich: Thomas Gehringer zum Beispiel sah Genreschwächen (Agentenfilm), kam dann allerdings zu einem positiven Urteil: „Wendezeit ist nicht so knallbunt & temporeich wie Deutschland 83 und nicht so differenziert & vielfältig wie Weissensee. Aber für einen unterhaltsamen Fernsehabend mit einem sehenswerten Ensemble (Schmidt-Schaller, Thomsen, Hunger-Bühler, Beyer, Rausch) reicht‘s allemal.“
Erinnerungsdiskurs
Der Film löst sich von der Idee des moralisch überlegenen Westens und stellt weder BRD noch DDR übertrieben negativ dar. Im Gegenteil: Gerade die DDR-Figuren wie Saskia, Markus Wolf, Kai-Uwe Henning und Erich Leschke sind Menschen aus Fleisch und Blut. Saskia bleibt eine überzeugte Sozialistin, ohne abgewertet oder ins Lächerliche gezogen zu werden. Markus Wolf wird als reformwillige Vaterfigur präsentiert. Saskias Vater Erich, Stasi-Offizier, sind seine Enkel schließlich wichtiger als alles andere. Selbst die Agentin kann sich Gefühle erlauben und muss nicht mit jedem Kollegen ins Bett, um an Informationen zu kommen.
Drehbuchautorin Silke Steiner sagte im SWR, dass sie die Erinnerungsdebatte verändern wollte: „Ja, absolut! Das ist das, was ich vorhin mit der Siegerjustiz meinte. Es ist natürlich immer nur eine sehr einseitige Sicht gewesen. Es gab um den Mauerfall herum viele Leute, die die DDR gar nicht begraben wollten. Die wollten einen demokratischen Sozialismus, einen Neuanfang. Die haben an die Gleichheit und Gerechtigkeit für alle noch geglaubt. Das ist jetzt auch eine Zeit, wo solche Themen wieder anders diskutiert werden.“
Diesen Perspektiv-Wechsel haben auch die Leit- und Fachmedien erkannt. Oliver Jungen schrieb in der FAZ, dass Wendezeit mit dem „alten Befreiungsmotiv“ des Mauerfalls breche (FAZ). Und Jens Müller in der taz: „Petra Schmidt-Schaller spielt die Kalte Kriegerin – oder, wie man in der DDR (Wann hat man eigentlich aufgehört, von der ‚ehemaligen‘ DDR zu sprechen?) sagte: Kundschafterin des Friedens – notwendig unterkühlt, aber eben nicht kalt.“
Am ehesten lässt sich der Film zwischen Akzeptanz- und Fortschrittsgedächtnis einordnen. Die DDR wird nicht moralisch verurteilt, und die sozialistische Idee hat mit Blick auf das kapitalistische Wertesystem ihre Berechtigung. Vom Unrechtsstaat DDR jedenfalls ist Wendezeit weit entfernt.
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