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Bayerischer Rundfunk/Julie Vrabelova

Zuckersand

Kurzinformationen

Filmdaten

Titel
Zuckersand
Erscheinungsjahr
2017
Produktionsland
Originalsprachen
Länge
90 Minuten

Kurzbeschreibung

Zuckersand erzählt von der Freundschaft zweier Jungen in den späten 1970er Jahren der DDR und ihrem Traum, einen Tunnel nach Australien zu graben.

Schlagworte

Zeit
Schauplatz
Genre

Entstehungskontext

Beteiligte

Regie

Dirk Kummer wurde 1966 in Hennigsdorf geboren. Er war Meisterschüler an der Berliner Akademie der Künste und hat an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf (Filmregie) sowie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studiert. Schon als Teenager war er im DDR-Fernsehen zu sehen – im Zweiteiler Meines Vaters Straßenbahn (1979). Er spielte auch in der berühmten DEFA-Produktion Coming Out (1989) mit und arbeitete als Assistent von Heiner Carow, der neben Coming Out auch den DEFA-Klassiker Legende von Paul und Paula (1973) drehte. Zum Film Zuckersand sagte Kummer in der Neuen Osnabrücker Zeitung: „Ich war 1979 in einem ähnlichen Alter, zu einer Zeit, als die DDR nochmal aufblühte. Insofern ist Freds Geschichte auch ein Stück weit meine Kindheit“. Zuckersand solle über die politischen Zustände von damals erzählen, allerdings „anders, tragikomisch“.

Drehbuch

Der Regisseur wurde hier von Bert Koß unterstützt, der ebenfalls eine DDR-Vergangenheit hat. Koß wurde 1957 in Pößneck geboren, wuchs wie Kummer in Berlin auf, studierte nach dem Wehrdienst Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität und schrieb einige Hörspiele für den Rundfunk der DDR: Und hinter uns der Frontmann (1989) oder Das kleine Fest zur letzten Sitzung (1990). Sein Vater Karl Koß schrieb ebenfalls Hörspiele.  

Produktion

Zuckersand wurde von der Firm Claussen + Putz produziert, in Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk, Degeto und dem MDR. Die beiden Geschäftsführer Jakob Claussen und Ulrike Putz haben keinen biografischen Bezug zur DDR, aber einige weitere Werke mit historischem Hintergrund in ihrer Filmografie: Der verlorene Bruder (2015) oder Boxhagener Platz (2010). Die Produktion von Zuckersand wurde von Wilma Film unterstützt, einem Unternehmen, das sich auf deutsche Produktionen in Tschechien spezialisiert hat und unter anderem an Preis der Freiheit (2019), Walpurgisnacht (2019) und Kranke Geschäfte (2020) beteiligt war.

Finanzierung

Das Budget wurde nicht veröffentlicht.

Werbung

Es gab einen Trailer (zum Filmfest München 2017) sowie ein Filmplakat. Im Vordergrund ist Fred bei seinem Lieblingshobby zu sehen: Er läuft. Im Hintergrund ist der Zuckersand abgebildet. Der Regisseur und zwei Schauspieler haben bereits vor der Premiere am 25. September 2017 in der Bayerischen Landesvertretung in Berlin ein Interview gegeben.

Filminhalt

Handlung

Zuckersand spielt 1979 in einem kleinen DDR-Ort. Die Freunde Fred und Jonas erleben eine fröhliche und behütete Kindheit voller Abenteuer. Als Fred von seinem Nachbarn einen Bumerang bekommt, haben die beiden einen Sehnsuchtsort: Australien. Ihre Freundschaft wird jedoch bald getrübt. Weil die Mutter von Jonas einen Ausreiseantrag stellt, darf Fred nicht mehr mit ihm spielen. Die Jungs treffen sich heimlich in einer alten Fabrikhalle und fangen an, einen Tunnel durch den märkischen Zuckersand zu graben. Das Ziel: Einmal quer durch die Erde nach Australien, um sich dort irgendwann wiederzutreffen. Jonas soll dann vom Westen ebenfalls an dem Tunnel bauen.

Fred ist ein Lauftalent und bekommt einen Platz in der Kinder- und Jugendsportschule. In der Ferne winken Olympia und damit Australien und Jonas. Bei der Ausreise von Jonas und seiner Mutter kommt es zu einer Panne. Der Junge reißt sich von seiner Mutter los und rennt zurück in den Osten, weil er den Zettel mit den Tunnel-Koordinaten in der Fabrikhalle vergessen hat. Dort wird er vom Zuckersand verschüttet. Der Nachbar findet ihn und meldet seinen Tod der Stasi, die versucht, den Vorfall unter den Teppich zu kehren.

Zentrale Figuren

Fred Ernst (Tilman Döbler) – ein zehn Jahre alter Junge. Vater Günter (Christian Friedel) ist Zollbeamter. Dazu kommen Mutter Michaela (Katharina Marie Schubert) und Schwester Ramona (Pauletta Pollmann). Fred ist ein Lauftalent und wird entsprechend gefördert. Der Unterschied von Ost und West scheint ihm zunächst egal. Durch die Freundschaft mit Jonas ergeben sich ganz neue Fragen: „Ist Glaube besser als Sozialismus?“ Fred ist die treibende Kraft hinter dem Tunnelplan. Nach dem Tod von Jonas beginnt er, für Olympia zu trainieren – nicht für die DDR, sondern für seinen Freund.

Jonas Gramowski (Valentin Wessely) – ebenfalls zehn. Wächst in einer westorientierten Umgebung auf. Seine Mutter Olivia (Deborah Kaufmann), eine systemkritische Christin, ist alleinerziehend und schiebt das auf die DDR: „Dass Jonas keinen Vater mehr hat, daran sind Genossen wie Sie schuld“. Jonas kann ein Lied von Wolf Biermann singen: „Wenn einem was wichtig ist, vergisst man es nicht“.

Nach dem Ausreiseantrag der Mutter wird er gemobbt. Nur sein Freund Fred hält zu ihm.

Gesellschaftsbild

Zuckersand zeigt eine DDR, die mindestens zwei Seiten hat: die Befürworter und die Gegner, die zugleich mit dem Westen liebäugeln oder sogar ausreisen wollen wie die Mutter von Jonas, die außerdem in der Kirche ist. In diesem Milieu hat man andere Produkte (ein Fernglas oder ein modernes Fahrrad), erzieht die Kinder anders und hört andere Musik (zum Beispiel Wolf Biermann). Freds Familie steht dagegen hinter der DDR. Sein Vater: „Der Kommunismus ist eine wissenschaftliche Weltanschauung. Das glauben wir nicht, das wissen wir.“ Der Sozialismus wird als gegeben hingenommen, weil er für (einen bescheidenen) Wohlstand und vor allem für Sicherheit sorgt.

Dieses Befürworter-Milieu ist aber nicht so starr und monolithisch, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Einfluss reicht vom Westfernsehen über die Pille bis hin zur Bravo, einer Jugendzeitschrift aus der Bundesrepublik. Selbst das Ministeriums für Staatssicherheit ist nicht allmächtig, wenn es um die Dinge des Lebens geht. Die Mütter sprechen in einer Geheimsprache über den Tod von Jonas, obwohl die DDR das nicht will.

Die sozialistische Ideologie wird in dieser Film-DDR gewissermaßen mit der Muttermilch aufgenommen.

Fred: „Wir würden alle imperialistischen Schweine abschießen und die Menschen vom Joch der Unterdrückung befreien.“ Jonas: „Was ist ein Joch?“ Fred: „Weiß ich auch nicht. Sagen sie immer so.“ Die Kinder lernen über Bilder, dass das Kollektiv wichtiger ist als der Einzelne. So wird die Arbeiterklasse in der Schule mit Bleistiften verglichen: Einer allein bricht leicht, viele kann man nicht brechen. Auch in diesem Alter lockt trotzdem schon der Westen – zunächst über ein exotisches Produkt (einen Bumerang) und dann ganz konkret (Australien), auch wenn der Weg mehr als beschwerlich ist (Tunnel oder Spitzensport).

Ästhetik und Gestaltung

Dirk Kummer hat auf DDR-Stereotype verzichtet und zeigt stattdessen die Welt so, wie sie die Jungen sehen – bunt, authentisch, alltäglich. Rainer Tittelbach: „Das vermittelte Lebensgefühl schiebt sich in den Vordergrund“. Es gibt trotzdem (oder genau deshalb) viele braune und gedeckte Farben (Tapete, Sofa), viel Kleinbürgertum (Einrichtung, Kleidung) und viele Naturaufnahmen (Garten, See). Die Welt von Fred und Jonas wird so in ein natürliches Licht getaucht.

Man hört Dialekt (nüscht, jut) und sieht Uniformen oder Alltagskleidung. Neben Wolf Biermann gibt es das Lied Siehst du die Lerchen der DDR-Band Bayon. Als Fred von fernen Welten träumt, beginnt der leuchtende Globus in seinem Kinderzimmer zu schweben. Nach dem Tod von Jonas verschwindet das Licht. Auch sonst arbeitet Zuckersand mit Metaphern. Der Bumerang ist ein Gegenstück zur DDR: Er kann wegfliegen und wieder zurückkommen (Redcarpet Reports). Zuckersand ist ein Ostbegriff, der für den feinen, körnigen und hellen Sand an der Ostsee oder in Brandenburg steht, aber auch für Endlosigkeit und Freiheit, gekoppelt mit der Gefahr, nicht zu tragen. Das alles lässt diesen Sand zum Schicksalsträger der Geschichte werden (Rainer Tittelbach). Eigentlich ist Zuckersand hell. Im Film wirkt er schwarz und körnig.

Authentizität

Strategien der Authentizitätskonstruktion

Gedreht wurde vorwiegend in der Gegend um Prag, um eine möglichst authentische Atmosphäre zu schaffen – die Bescheidenheit, Einfachheit und Gemütlichkeit des Lebens in der DDR und im Sozialismus der späten 1970er Jahre. Dirk Kummer selbst lebte als Kind in Grenznähe – zuerst in Falkensee nahe Spandau und später in Berlin in der Leipziger Straße mit Blick nach Kreuzberg. Er ist zu dieser Zeit ungefähr so alt wie seine Helden Fred und Jonas. In einem Interview sagte Kummer, dass sich die DDR unter Erich Honecker zunächst in einer Art Hoch befand. Nach der Ausweisung von Wolf Biermann im Herbst 1976 hätten sich aber nicht wenige vom Sozialismus abgewandt und den Glauben an das System verloren.

Deborah Kaufmann (Mutter von Jonas) und Christian Friedel (Vater von Fred) sind in der DDR aufgewachsen. Kaufmann sagte in einem Interview, dass sie trotzdem zusätzlich recherchiert habe. Jungschauspieler Tilman Döbler spielte eine kleine Rolle im DDR-Film Ballon (2018) von Bully Herbig.

Rezeption

Reichweite

Die Uraufführung von Zuckersand fand am 24. Juni 2017 in der Reihe Neues Deutsches Fernsehen beim Filmfest München 2017 statt. Außerdem wurde der Film im Rahmen des Fernsehfilmfestivals Baden-Baden sowie am 25. September 2017 in der Bayerischen Landesvertretung in Berlin gezeigt. TV-Premiere war am 11. Oktober 2017 zur Primetime im Ersten. Die Reichweite lag dabei deutlich unter dem Kanaldurchschnitt (2,84 Millionen Zuschauer, Marktanteil 9,6 Prozent). 2019 erschien ein gleichnamiges Buch.

Rezensionen

Zuckersand fand ein starkes (und durchweg positives) Medienecho. Heike Kunert sprach in der Zeit von einem Ausnahme-Fernsehfilm, der „behutsam und berührend von der Kindheit in der DDR“ erzählt. Der Regisseur zeige, wie kaum ein Spielfilm zuvor, das einfache Leben in der DDR: „Das Absurde, die politischen Reglementierungen, den Verdruss, den Ärger, die Resignation, den Slapstick-Sozialismus lässt er aus. Er zeichnet nichts grau und trist, das erledigen schon die Häuserfassaden“. Cornelius Pollmer sah das in der Süddeutschen Zeitung ganz ähnlich und verwies dabei vor allem auf den Tunnel, der hier zwar auch ein Fluchtmittel sei, aber eigentlich nicht dazu diene, der DDR zu entkommen, sondern eine Freundschaft am Leben halten soll. Pollmer weiter: „Kummer fokussiert nicht den furnierten Funktionsapparat des Landes, sondern individuelles Leben“ aus der Perspektive von Kindern. Auch Tilmann P. Gangloff lobte in der Frankfurter Rundschau die Kinder als Protagonisten und Identifikationsfiguren. Dies werde (abgesehen von öffentlich-rechtlichen Kindersendern wie KiKa) nur noch selten praktiziert. Schauspielkunst, Dialoge und Gesamtwerk hielt Gangloff für „herausragend“. Kritisiert hat er nur die Synchronisation von Nebendarstellern und deren Übereifer.

Besonderes Lob bekam Tilman Döbler (Merkur), aber auch Valentin Wessely. Michael Hanfeld in der Frankfurter Allgemeinen: „Die beiden sind phänomenal, sie sind ihren erwachsenen Mitspielern in jeder Szene ebenbürtig und tragen die dramatische und traurige Wende der Geschichte“. Hanfeld weiß, dass Regisseur Kummer die Geschichte seit sechzehn Jahren mit sich herumgetragen hat: „So lange hat es gedauert, bis die Zeit reif war, im Fernsehen von der DDR nicht in einem großen Melodram oder überspitzt, sondern in poetischen Bildern (…) mit trockenem, bitterem Dialogwitz und aus einer Kinderperspektive zu erzählen, die das Unterdrückerische des Regimes auf besondere Weise hervorkehrt“.

Die Berliner Morgenpost wies Zuckersand einen besonderen Platz im Kosmos der DDR-Filme zu, auch wenn Autor Wolfgang Platzeck keine Vergleichswerke nennt: „Im Gegensatz zu den erfolgreichen Komödien, Dramen oder Polit-Spieldokus, die in den Jahrzehnten seit der Wende entstanden sind und in denen der DDR-Alltag oft einseitig dargestellt wird, setzt der aus Brandenburg stammende Dirk Kummer auf maximale Authentizität und Unvoreingenommenheit. Das betrifft nicht nur Milieu und stilgerechte 70er-Jahre-Ausstattung“. Ähnlich sah das Marcel Kawentel in der Neuen Osnabrücker Zeitung: „Unzählige Filme sind bereits über die DDR gemacht worden – gibt es immer noch etwas Neues zu erzählen? Dirk Kummer ist mit Zuckersand eine einfühlsame DDR-Geschichte aus Kindersicht gelungen“. Und Rainer Tittelbach: „Zuckersand erzählt einmal ganz anders von jenem real existierenden Sozialismus. Nicht nur aus dem gelebten Alltag heraus, sondern auch aus der Kinderperspektive“. Tittelbach nannte außerdem den Film Der verlorene Bruder (2015), der von der gleichen Filmproduktionsfirma realisiert wurde und einen ähnlichen Ansatz verfolge – ein Kind als zentrale Figur und Hoffnungsträger.

Die Auszeichnungen, die Zuckersand bekommen hat, lösten ebenfalls ein Medienecho aus. So berichteten das Neue Deutschland und die Welt über den Bernd Burgemeister Fernsehpreis 2017 und griffen dabei das Jury-Urteil auf: „Der Film nehme sich Zeit und schaue genau und mit pointiertem Dialogwitz auf die ebenso bedrohlichen wie spießigen Verhältnisse in der ehemaligen DDR“.

Auszeichnungen

Jahr

Titel

Kategorie

Preishöhe

2017

Bernd Burgemeister Fernsehpreis

Bester deutscher Fernsehfilm 2017

25.000 EUR Preisgeld

2017

3sat-Zuschauerpreis

 

 

2018

Grimme-Preis

Kategorie Fiktion

 

Erinnerungsdiskurs

Dirk Kummer sieht die DDR durch die Augen von Kindern und schafft so ein buntes, lebensfrohes und fantasievolles Bild jenseits von allem Schwarz-Weiß-Denken. Das erklärt das überaus positive Medienecho und die Auszeichnungen. Die Jurybegründung beim Grimme Preis 2018: „Die filmische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit erstickt oft in Klischees. Einer bei der Stasi, einer bei der NVA und einer im Widerstand lautet eine beliebte Figurenkonstellation, die man in den vergangenen zwei Jahrzehnten unzählige Male gesehen hat. Zuckersand findet einen neuen Zugang zum Leben in der DDR, indem der Film zwei zehnjährige Jungen und ihren Alltag in den Mittelpunkt stellt.“ Und Rainer Tittelbach: „eine Geschichte von großer Wärme und Wahrhaftigkeit, die die Wirklichkeit nicht (n)ostalgisch verklärt“.

Ganz so fern vom Üblichen ist Zuckersand allerdings nicht. Dirk Kummer spricht zwar von Freundschaft und lässt Momente einer glücklichen Kindheit aufblitzen (und damit seine eigenen Erinnerungen), auch diese Film-DDR wird aber vom Ost-West-Konflikt überschattet. Mehr noch: Die deutsche Teilung zerstört nicht nur das Band, das Jonas und Fred verbindet, sondern sogar das Leben eines der beiden Jungen. Die Anziehungskraft des Westens und seiner Produkte ist selbst bei denen groß, die sich der DDR verschrieben haben und sogar davon träumen dürfen, dieses Land bei Olympischen Spielen zu vertreten. Auch bei Dirk Kummer ist die DDR weder Utopie noch legitime Alternative zum Kapitalismus. Bei den Jurys und den Filmkritikern hat ihm das nicht geschadet.     

Empfehlung

Empfehlung der Autorin

Zuckersand ist ein sehenswerter Film, der die deutsch-deutsche Geschichte aus Kinderaugen erzählt und so einen neuen Blick auf das Leben in der DDR wirft. Die Freundschaft von Fred und Jonas steht für die Versöhnung zwischen beiden Staaten. Um es mit Fred zu sagen: „Man verabschiedet sich mit einem warmen Gefühl“ aus diesem Film.

Empfohlene Zitierweise

Zuckersand. In: Daria Gordeeva, Michael Meyen (Hrsg.): DDR im Film 2024, https://ddr-im-film.de/index.php/de/film/zuckersand