Filmporträts: Making of

Inhalt

Theorie

Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen

Zunächst zur Theorie. Das „kollektive Gedächtnis“ ist ein „diskursives Konstrukt“ (Pethes/Ruchatz 2001), das vom Kontext abhängt (von der Sprache, von den Machtverhältnissen, von anderen historischen Gegebenheiten) und sich mit dem Kontext folglich ändert. Astrid Erll (2017) hat diesen Prozesscharakter in ihrer Definition genauso herausgehoben wie das, was das Heute und das Morgen aus dem Gestern machen. Für Erll ist das kollektive Gedächtnis der „Oberbegriff für all jene Vorgänge biologischer, psychischer, medialer und sozialer Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in kulturellen Kontexten zukommt“. Das heißt auch: Gesellschaften arbeiten permanent an ihren Erinnerungen.

Die Metapher täuscht dabei etwas: Das kollektive Gedächtnis hat weder einen festen Ort noch eine einzige (wenn auch wandelbare) Ausprägung. Astrid Erll (2008) nutzt deshalb auch den Begriff Erinnerungskulturen und meint damit „die historisch und kulturell variablen Ausprägungen von kollektivem Gedächtnis“. Der Plural zeigt, „dass wir es niemals, auch nicht in den homogensten Kulturen, mit nur einer einzigen Erinnerungsgemeinschaft zu tun haben“. Und das Wort Erinnerung verweist darauf, dass es immer Menschen braucht, die etwas tun (reden, schreiben, Filme drehen), damit das kollektive Gedächtnis „tatsächlich beobachtbar und kulturwissenschaftlich analysierbar wird“.

filme in der erinnerungskultur

Kein Zweifel: Der Film ist in den letzten Jahrzehnten zu einem „wirkmächtigen Medium der Vergangenheitsdarstellung und -deutung“ geworden und damit zum „Leitmedium der Erinnerungskultur“ (Erll/Wodianka 2008). Astrid Erll und Stephanie Wodianka (2008) begreifen „Erinnerungsfilme“ als „Verbreitungsmedium des kollektiven Gedächtnisses“. Dieses Leit- und Verbreitungsmedium wird, auch daran besteht kein Zweifel, „in Sozialsystemen erzeugt“. Einfacher formuliert: Um aus einem „TV-Event“ im ZDF, einem Kino- oder einem Dokumentarfilm einen „Erinnerungsfilm“ werden zu lassen, braucht es Marketing und Werbung, Debatten in der Presse und in Jurys, manchmal sogar Verbote und Hilfe aus der Geschichtspolitik, auf jeden Fall aber Kolleginnen und Kollegen, die den Stoff auf die eine oder andere Weise aufnehmen und weiterverarbeiten, sowie uns, das Publikum, das darüber spricht, oft sogar sprechen muss, weil „Erinnerungsfilme“ wie jedes andere Leitmedium definieren, „was ist und was sein darf“, und deshalb nur bei Strafe des Reputationsverlustes ignoriert werden können (Meyen 2021: 29).

Astrid Erll und Stephanie Wodianka (2008) sprechen von „plurimedialen Netzwerken“ und sagen: „Je komplexer diese Netzwerke ausgebildet sind, desto stärker ist in der Regel auch die Bedeutung eines Films als kollektives Gedächtnis bildendes bzw. prägendes Medium“. Plakativ gesprochen: Erinnerungsfilme werden gemacht. Entscheidend sind dabei nicht der Gegenstand, die Perspektive oder gar der Cast, sondern die vielen Dinge, die „um den Film herum“ passieren. 

Für die Filmanalyse (und damit auch für die Porträts in diesem Portal) hat das Folgen. Wir schauen nicht nur auf die Schauspielkunst, auf Beleuchtung, Musik oder Schnitt und generell eher am Rande auf filmästhetische Finessen oder filmhistorische Bezüge. Mindestens genauso wichtig ist für uns das, was Erll und Wodianka (2008) filmtranszendente und sozialsystemische Faktoren nennen: „Sendeplatz, Einschaltquoten, Marketingstrategien, die Verleihung von Preisen, öffentliche Diskussionen, die didaktische Aufbereitung der Filme und ihre Verankerung im Schulunterricht“. Folgt man Erll und Wodianka (2008), was wir hier tun, dann kann nur so ein „doppelter Zugang“ (filmimmanente und filmtranszendente Analyse) zeigen, ob das „Wirkungpotential“ der Produktion tatsächlich umgesetzt worden ist.

Geschichtsfilme vs. historische Forschung

Eigentlich ist das eine Selbstverständlichkeit: Filme dürfen niemals als historische „Wahrheit“ gesehen werden (als Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit – mit dem, was ohne unser Wollen existiert, vgl. Meyen 2021: 47f.), egal wie detailliert, wie gut recherchiert oder wie komplex die jeweilige Geschichte zunächst auch scheinen mag. Zum einen können Filme „stets nur Ausschnitte aus der Vergangenheit recyceln“ (Wende 2011). Und zum anderen „darf“ der Historienfilm ,,Facts und Fiction ungeniert mischen und sich das historische Ereignis nach seiner spekulativen Interpretation zurechtbiegen“ (Wolf 2005). Man kann die Geschichte, die in einem Historienfilm erzählt wird, getrost als „eine von der Fantasie beflügelte Narration“ sehen (Wende 2011).

Historienfilme spielen folglich in einer anderen Liga als wissenschaftliche Darstellungen von Geschichte. „Historische Korrektheit“? Egal. „Daten- oder Faktentreue“? Ebenfalls nicht wichtig. „Sachliche Richtigkeit“ und „intersubjektive Überprüfbarkeit“? Sie ahnen es. Filme werden ausschließlich an „kunstinternen Bewertungskriterien“ gemessen – an der „Komplexität des verwendeten Zeichenrepertoires“, am Facettenreichtum“, an der „Vielschichtigkeit und Polyvalenz der inszenierten Kunstwelt“, an der „Differenziertheit“ und vielleicht auch an der „Unkonventionalität der Repräsentationsstrategien“. Waltraud Wende (2011) ergänzt diesen Katalog um eine emotionale Dimension, weil „Kunst und der Wunsch, unterhalten zu werden“, untrennbar zusammengehören.

Der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, mag heute darüber klagen, dass Florian Henckel von Donnersmarck seinen Lebensbericht angehört und daraus dann doch etwas ganz anderes gemacht hat. Wir können mit Hein fragen, was der Oscar-Gewinner Das Leben der Anderen (2006) mit der DDR zu tun hat. Nur: Für einen Historienfilm ist es unvermeidlich, teilweise oder sogar ganz auf fiktive Narrative zurückzugreifen. Auf Deutsch: Geschichte zu erfinden. Das macht es einerseits schwierig, Spielfilm und Dokumentation zu unterscheiden, denn „jede Referenz auf ein vorgängiges Ereignis, jede Rekonstruktion eines Vorausgegangenen ist Interpretationsarbeit und ist damit niemals das Ereignis selbst“ (Wende 2011). Anderseits muss eine Filmanalyse, die das Konzept der plurimedialen Netzwerke ernstnimmt und verstehen will, warum ausgerechnet Das Leben der Anderen zu DEM Erinnerungsfilm in Sachen DDR werden konnte, die Strategien der Authentizitätskonstruktion im Blick behalten, mit denen die Beteiligten ihre Konstruktionen legitimiert haben.

Das gilt auch für den zeitlichen Kontext. „Spielfilme verarbeiten die in einer konkreten Gesellschaft zum Zeitpunkt der Film-Produktion mit geschichtlichen Vergangenheiten verbundenen kulturellen Sinnkonstruktionen und semantischen Deutungsmuster“ und sind somit ein „Zeugnis des jeweiligen Umgangs mit dieser Vergangenheit, ein Dokument der jeweiligen Interpretation eines historischen Ereignisses“ (Wende 2011). Für uns heißt das: Es ist nicht egal, wann ein Film produziert worden ist. Christoph Hein hat seine Bedenken erst 2019 öffentlich gemacht – fast anderthalb Jahrzehnte nach der Premiere von Das Leben der Anderen. Der DDR-Diskurs hatte sich inzwischen genauso verändert wie der Lebenshorizont des Schriftstellers.

Filme als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse

Filme sind immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse und „offensichtlicher Gegenstand politischen Handelns“, weil ihre Produktion erhebliche Ressourcen verlangt und weil sie „eine bestimmte Wirklichkeit mit eigenem Geltungsanspruch“ konstruieren, „Sinnmuster zur Verfügung“ stellen und so „für Orientierung sorgen, die Integration fördern, der kollektiven Identität dienen und zur Erinnerungskultur beitragen“ (Wiedemann 2019). Schon die Position von Erinnerungsfilmen verführt dazu, diesem Leitmedium der Erinnerungskultur seinen Stempel aufzudrücken. In Deutschland werden die entsprechenden geschichtspolitischen Kämpfe auch in den Gremien der Filmförderung (Link) ausgetragen.

Thomas Wiedemann (2019) hat das Feld der Filmproduktion folgerichtig als „Ort der Auseinandersetzung um legitime (von der Gesellschaft anerkannte) Sinnmuster“ beschrieben. Seine Studie zum Regiestuhl-Habitus zeigt, dass die Akteure diese Deutung verinnerlicht haben und sich selbst auch als „Themensetzer“ sehen. Wer in Deutschland einen Film dreht, möchte „über gesellschaftlich relevante Sachverhalte“ aufklären oder Wunschrealitäten schaffen. Dazu kommt der Wunsch, den „Unterhaltungscharakter“ von Filmen mit einem „ernsthaften Diskurs“ zu verbinden und die „Stimmung im Land“ positiv zu beeinflussen. Für die filmischen Wirklichkeitskonstruktionen bleibt dieses Selbstverständnis nicht folgenlos: Man respektiert die „Grenze zwischen Arthouse und Mainstream“, verzichtet auch sonst auf „Experimente“ und setzt stattdessen (auch „mit Blick auf die Filmförderung und das öffentlich-rechtliche Fernsehen“) lieber auf „Themenfilme“, die dann „geschmackvoll“ und „ernst“ umgesetzt werden (Wiedemann 2019).

Forschungsfragen und Filmauswahl

Eine Filmanalyse ist prinzipiell endlos. Wer ein Filmporträt schreiben möchte, muss sich folglich einer einfachen Frage stellen (Mikos 2015): „Was ist in einer gegebenen Zeit an welchem Gegenstand in welcher Weise zu leisten, um dem Erkenntnisinteresse und den sich daraus ableitenden Fragestellungen gerecht zu werden?“ Die drei Antworten für dieses Portal:

  • Wie wird die DDR filmisch (re-)konstruiert?
  • Was (Strukturen, Akteure, Interessen, Ressourcen) steckt hinter bestimmten DDR-Bildern?
  • Welchen Beitrag leisten die Filme zum Erinnerungsdiskurs?

Zur Grundgesamtheit gehören alle thematisch einschlägigen Kinofilme, die zwischen 1990 und 2020 produziert worden sind, sowie die Fernsehfilme und Serien, die eine herausgehobene Position im DDR-Diskurs haben. Die Filme sollten zudem leicht zugänglich sein (idealerweise auf DVD oder im Stream, aber auch über häufige Wiederholungen im linearen Fernsehen). In Frage kamen dabei sowohl deutsche als auch ausländische Produktionen.

Kategorien

Kategorien „grenzen einen komplexen Gegenstand ein und gliedern ihn in einzelne (analysierbare) Teilaspekte“ (Meyen et al. 2019), indem sie die zu untersuchenden Merkmale definieren. Ein Kategoriensystem hilft sowohl beim Schreiben (weil man weiß, wonach man suchen muss) als auch beim Lesen (weil klar ist, was alles nicht berücksichtigt wurde). Die wichtigsten Kategorien im Überblick:

Entstehungskontext Hier gibt es Informationen zu den Beteiligten (Regie, Drehbuch, Produktion, mögliche Vorlagen oder Vorbilder, Geldgeber, Werbung – die „plurimedialen Netzwerke“) und Querverweise: Wer hat mit wem welche anderen Filme gedreht? Wichtig waren uns hier neben der Feldposition der Akteure vor allem ihre (biografischen) Bezüge zur DDR und das, was sie zum Thema oder zum Film gesagt haben.
Filminhalt Dazu gehören natürlich Handlung und zentrale Figuren (maximal sechs) – diejenigen Figuren, die die „wichtigsten handlungsrelevanten Entscheidungen“ treffen und die wesentlichen narrativen Entwicklungen dominieren (Taylor 2002). In diesen Kurzporträts geht es auch um Wertvorstellungen, um Motivationen, um das Selbstverständnis und um die Beziehungen zu anderen Figuren. Anhaltspunkte für die Einordnung lieferte der Überblick über soziale Milieus in der DDR von Michael Hofmann (2010). Manchmal war es hier wichtig, die Lebensläufe der Stars einzubeziehen (vor allem, wenn sie einen DDR-Bezug hatten). In vielen Porträts (da, wo es Sinn gemacht hat) geht es auch um DDR-Institutionen (Stasi, Armee, oppositionelle Gruppen, die Kirche, die Schule).
Gesellschaftsbild eine zentrale Kategorie und zugleich eine Besonderheit dieses Portals, die mit seinem Thema zusammenhängt. Wir wollten wissen, wie die DDR aussieht, die der jeweilige Film auferstehen lässt. Dabei geht es sowohl um die soziale Ordnung und die Beziehungen zwischen den Figuren als auch um ihre Beziehung zum Staat und nicht zuletzt um die filmische Umsetzung (Ästhetik und Gestaltung).
Strategien der Authentizitätskonstruktion Auch wenn Geschichtsfilme niemals den Anspruch haben dürfen, historische Wirklichkeit eins zu eins abzubilden, wird genau dies oft behauptet – auch und gerade von den Beteiligten selbst. Wir unterscheiden hier filmimmanente Strategien (Mittel, die im Film selbst das Gefühl einer authentischen Geschichtserzählung vermitteln sollen: Requisiten, Originalschauplätze oder Nachbauten, Archivalien, O-Töne aus Funk und Fernsehen, Texteinblendungen am Anfang oder am Ende) und filmtranszendente Strategien (alles, was sonst so passiert: Interviews, die Quellen oder Recherche loben, Begleitdokumentationen oder ein Cast aus Ostdeutschen).
Rezeption Um den Film in den Erinnerungsdiskurs einordnen zu können, muss man wissen, wie viele Menschen er erreicht hat und wie die Multiplikatoren reagiert haben (Leitmedien, Preis-Jurys, Festivalverantwortliche, Wissenschaft).
Einordnung in den DDR-Erinnerungsdiskurs Ausgangspunkt war hier die Typologie der Erinnerungsmuster von Martin Sabrow (2009), der Diktatur-, Arrangement- und Fortschrittsgedächtnis unterschieden hat. Da sich längst nicht alle Filme problemlos einem Muster zuordnen ließen, wird hier auch gefragt, ob die Produktion eine neue Perspektive liefert und damit etablierte Erzähl- und Diskursstrukturen herausfordert.
Empfehlung rein subjektiv, begründet mit zwei Sätzen und für den schnellen Zugang noch mit einer Bewertung versehen – von einem Stern bis zum Maximum von fünf.

Literatur

Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. In: Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hrsg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart: J.B. Metzler 2008

Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: J.B. Metzler 2017

Astrid Erll, Stephanie Wodianka: Einleitung: Phänomenologie und Methodologie des ‚Erinnerungsfilms‘. In: Astrid Erll, Stephanie Wodianka (Hrsg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin: de Gruyter 2008

Michael Hofmann: Soziale Strukturen in der DDR und in Ostdeutschland Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung: Lange Wege der Deutschen Einheit 2010

Margarete Jäger, Siegfried Jäger: Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007

Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft. München: Rubikon 2021

Michael Meyen, Maria Löblich, Senta Pfaff-Rüdiger, Claudia Riesmeyer: Qualitative Forschung in der Kommunikationswissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung. 2. Auflage. Wiesbaden VS Verlag für Sozialwissenschaften 2019

Lothar Mikos: Film- und Fernsehanalyse. 3. Auflage. Konstanz: UVK 2015

Nicolas Pethes, Jens Ruchatz (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon.

Reinbek: Rowohlt 2001

Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München: C.H. Beck 2009

Henry M. Taylor: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System. Marburg: Schüren 2002

Waltraud Wende: Filme, die Geschichte (n) erzählen: Filmanalyse als Medienkulturanalyse. Würzburg: Königshausen & Neumann 201

Thomas Wiedemann: Filmregisseurinnen und Filmregisseure in Deutschland. Strukturen und Logik eines heteronomen Berufsfeldes. In: Publizistik 64. Jg. (2019), S. 205-223

Fritz Wolf: Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen. Eine Fortschreibung der Studie „Alles Doku – oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen“. Düsseldorf: Landesanstalt für Medien 2005

Empfohlene Zitierweise

Filmporträts: Making of. In: Daria Gordeeva, Michael Meyen (Hrsg.): DDR im Film 2023, https://ddr-im-film.de/index.php/de/konzept