Der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944 und in der DDR eine Instanz, hat 2019 berichtet, wie aussichtslos es ist, gegen die Bilder zu kämpfen, die Filme in die Köpfe der Menschen pflanzen. Das gilt offenbar auch dann, wenn man genau weiß, wovon man spricht, weil man es selbst erlebt hat. Die Geschichte von Christoph Hein beginnt im Sommer 2002 mit einem Anruf von Ulrich Mühe, Star im Spielfilm Das Leben der Anderen (2006), der den Schriftstellerfreund fragte, ob er mit einem Regisseur vorbeikommen könne. Hein schilderte den beiden ein paar Stunden lang, wie es ihm in der DDR ergangen war, und fand seinen Namen dann Jahre später im Vorspann eines Films, der sich auf seine Erlebnisse berief und doch so gar nichts mit dem zu tun hatte, was man historische Wirklichkeit nennen könnte. O-Ton Christoph Hein: „Nein, Das Leben der Anderen beschreibt nicht die Achtzigerjahre in der DDR, der Film ist ein Gruselmärchen, das in einem sagenhaften Land spielt, vergleichbar mit Tolkiens Mittelerde.“ Hein ließ seinen Namen aus dem Vorspann entfernen, aber damit war es nicht getan. Die Pointe dieser Geschichte: Die nächste Generation glaubt dem Film und nicht dem Zeitzeugen. Man habe ja schließlich auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm gesehen, wie es wirklich war. Noch einmal Christoph Hein: „Der Film wurde ein Welterfolg. Es ist aussichtslos für mich, meine Lebensgeschichte dagegensetzen zu wollen. Ich werde meine Erinnerungen dem Kino anpassen müssen.“
Mehr müssen wir über dieses Portal eigentlich gar nicht sagen. Filme sind längst die DDR, auch wenn noch ein paar Menschen leben, die der Wucht der inszenierten Bilder mit Dokumenten, Fotos und ihrem Gedächtnis entgegentreten könnten. Filme sind deshalb umkämpft. Kollektive Identität braucht Wurzeln. Kollektive Identität braucht Anker in der Vergangenheit. In Deutschland geht es dabei um den Faschismus und um die DDR. Nun sag, wie hast du’s mit dem Sozialismus, lautet hier die Gretchenfrage. Filme prägen die Bahnen, in denen wir antworten können. Filme zeigen uns, wie die anderen wahrscheinlich antworten werden. Und Filme künden davon, welche Antworten die meisten Ressourcen hinter sich haben. Dieses Portal geht deshalb über herkömmliche Filmanalyen hinaus und fragt nicht nur nach der Handlung, nach der Ästhetik (etwa: Tradition, Schnitt, Belichtung, Musik, Schauspielkunst) oder nach dem Erfolg beim Publikum, sondern auch nach den Beteiligten und nach dem Platz im Erinnerungsdiskurs. Wer hat den Stoff erdacht, geformt, finanziert? Wie haben die Leitmedien reagiert und wie die Jurys, die Preise verteilen? Und vor allem: Was hat der Film mit dem gemacht, was wir über die DDR zu wissen glauben? Was macht er noch? Das schreibt zwar das „Gedächtnis der Gesellschaft“ nicht um (noch so eine Formulierung von Niklas Luhmann), hilft uns aber, dieses Gedächtnis zu verstehen.
Das Portal „Die DDR im Film“ ist im Forschungsverbund „Das mediale Erbe der DDR. Akteure, Aneignung, Tradierung“ entstanden – gefördert ab Dezember 2018 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Dieser Verbund ist selbst ein Produkt des kollektiven Gedächtnisses – genauer gesagt: ein Produkt des gesellschaftlichen Unbehagens, das sich mit den ersten Pegida-Demonstrationen ab dem Herbst 2014 auszubreiten begann und dann spätestens mit den spektakulären Wahlerfolgen der AfD bei Landtagswahlen in Ostdeutschland und bei der Bundestagswahl im September 2017 auch mit der Geschichtspolitik verknüpft werden konnte. Die Proteste auf der Straße und an der Wahlurne hatten, so lässt sich eine verbreitete Lesart zusammenfassen, auch damit zu tun, wie in der Öffentlichkeit bisher über die DDR und ihr Ende gesprochen worden war. Die Politik hat entsprechend reagiert. Es gab zwar schon vorher kaum einen Gegenstand in der jüngeren Vergangenheit, der so intensiv beforscht worden ist wie der sozialistische deutsche Staat, das BMBF hat aber trotzdem sehr viel Geld (40 Millionen Euro) in die Hand genommen und für jeweils vier Jahre 14 Forschungsverbünde gefördert, um „Wissenslücken zur DDR schließen“ zu können.
„Das mediale Erbe der DDR“ wird dabei von Menschen aus drei akademischen Disziplinen an drei Standorten untersucht. Der Verbund vereint zum einen Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik sowie Kommunikationswissenschaft und zum anderen die Ludwig-Maximilians-Universität München, die Freie Universität Berlin sowie das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Diese Kombination und das Konzept „Erbe“ erlauben eine Perspektivenvielfalt auf Medienstoffe und Medienumgebungen, die ihresgleichen suchen dürfte: von den traditionellen Leitmedien über Spiel- und Dokumentarfilme bis zu Schmalfilmen und Fotoalben, vom Fernsehen über das Museum, die Schule und Familien bis zu den digitalen Plattformen, von der Vergangenheit in Ost und West bis in die Gegenwart.
Was bietet „Die DDR im Film“?
Dieses Portal bietet, was der Name verspricht: „Die DDR im Film“. Das hieß für uns zunächst: Wir behandeln alle Filme, die seit 1990 zu diesem Thema produziert worden sind, bis zum Redaktionsschluss, versteht sich (Sommer 2021). Es wurde schnell klar, dass dieser Anspruch tatsächlich einzulösen ist. Selbst wenn man sich nicht auf Kinofilme beschränkt und die wichtigsten TV-Events zum Thema einbezieht (in der Regel gesendet rund um den Tag der deutschen Einheit oder zu anderen Jubiläen) und die Dokumentarfilme, die die Nische dieses Genres verlassen haben, meint „alle“ lediglich eine Zahl von knapp über einhundert. Wir haben deshalb auch einige DEFA-Streifen aufgenommen. Erstens sind diese Filme einschlägig („Die DDR im Film“), zweitens sind sie im Gedächtnis der Gesellschaft präsent (über Fernsehausstrahlungen, DVDs und Streaminganbieter), drittens sind manche tatsächlich erst nach 1990 fertig geworden und viertens liefern sie gewissermaßen Bilder „von der Quelle“ – aus der DDR, die es wirklich gegeben hat, auch wenn man in einer medienkompetenten Gesellschaft voraussetzen kann, dass der Unterschied zwischen Realität und Abbild genauso selbstverständlich ist wie der Konstruktionscharakter aller Medienangebote. Es gab drei Bedingungen, die ein Film erfüllen musste, um hier aufgenommen zu werden:
- Thema (es sollte tatsächlich um die DDR gehen),
- Verfügbarkeit (jenseits von Archiven und ohne große Kosten) und
- Länge (mindestens eine Stunde).
Vor allem bei Punkt eins haben wir Kompromisse gemacht. Gundermann (2018) zum Beispiel erzählt in weiten Teilen von den ersten Jahren nach 1990, gehört aber natürlich in ein Portal, das sich mit der DDR im Film beschäftigt. Nicht ganz so eindeutig ist das bei Bridge of Spies (2015), einem Hollywood-Drama von Steven Spielberg mit Tom Hanks in der Hauptrolle, das zwar das geteilte Berlin als Kulisse nutzt, die DDR aber durch die US-Brille betrachtet und damit eher als eine „Fußnote der Geschichte“ (Stefan Heym 1990). Es gibt trotzdem eine Seite zu diesem Film, weil wir zeigen wollten, wie Hollywood im Fall der Fälle mit der Geschichte umgeht. Während sich über unsere Untergrenze für die „Länge“ trefflich streiten lässt (Warum nicht 45 Minuten? Warum nicht 90?), dürfte das Kriterium „Verfügbarkeit“ selbsterklärend sein. Filme, die man nur mit hohem Aufwand sehen kann, verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis.
Das Portal „DDR im Film“ ist ein Transferprojekt. Hier wird versucht, wissenschaftliches Wissen und eine wissenschaftliche Perspektive für alle zugänglich zu machen, die sich für das Thema interessieren – im Schulkontext, für das Gespräch in der Familie und im privaten Kreis oder für die weitere Forschung in ganz anderen disziplinären Zusammenhängen. Die Zugangshürden sind entsprechend niedrig. Man muss nicht in der DDR gelebt oder zu diesem Thema promoviert haben, um die Texte zu verstehen. Andersherum sollten Fachleute nicht allzu beckmesserisch mit diesem Angebot ins Gericht gehen. Natürlich: Wir fassen den Forschungsstand zusammen und verlinken das, was dazu online ist, werden aber jeden Vergleich mit Monografien oder Fachzeitschriftenaufsätzen zu Filmen wie Gundermann (2018), Bridge of Spies (2015) oder Das Leben der Anderen (2006) verlieren.
Bei aller Standardisierung, die so ein Portal erzwingt, hat das Format den Beteiligten erlaubt, ihre individuelle Sicht einzubringen – in den Filmporträts zum Beispiel über eine kurze „Empfehlung“ und die Vergabe von Sternen, aber auch in den längeren Textbausteinen, die schon deshalb graduell unterschiedlich sind, weil unser Team das gesamte akademische Spektrum abbildet – von der Studentin über die Doktorandin und den Postdoc bis zur Professorin. Es gibt deshalb zu allen Beteiligten eine kurze biografische Notiz. Neben den Kolleginnen und Kollegen aus dem Forschungsverbund „Das mediale Erbe der DDR“ sind wir elf jungen Leuten zu einem besonderen Dank verpflichtet. Ein ganzes Jahr lang (Sommersemester 2020, Wintersemester 2020/21) haben wir uns in einem Projektseminar im Masterstudiengang Kommunikationswissenschaft an der LMU mit der „DDR im Film“ beschäftigt. Ohne diese Gruppe würde es das Portal nicht geben.
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