Kruso
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung der Autorin
Entstehungskontext
Beteiligte
Regie führte Thomas Stuber, 1981 in Leipzig geboren, der in Ludwigsburg an der Filmakademie Baden-Württemberg bei Ufa-Geschäftsführer und Kruso-Produzent Nico Hofmann studierte. In seinem Melodram In den Gängen (2018) beschäftigte er sich bereits mit der filmischen Aufarbeitung des DDR-Arbeitermilieus. Bei Kruso handelt es sich nach seiner Aussage nicht um einen weiteren „Wendefilm“, eine „platte, historische Abfolge des Untergangs“, sondern um eine feinfühlige, überhöhte Geschichte in fantastischer Atmosphäre – „weit weg von grauen, maroden Hauswänden in Ostberlin“ (Das Erste, tittelbach.tv). Besonders die Authentizität der Arbeitswelt ist Stuber in seinen Filmen wichtig, denn sie sei Definitionsgrundlage des Menschen, „seine Bestimmung, seine Würde, ein Grund zu leben“ (Neues Deutschland). Der Utopie des Sozialismus als Gegenentwurf zum Kapitalismus, losgelöst von Politik und Staat, kann er sich selbst „nur schwer entziehen“ (Welt): „Warum sind die Menschen in Leipzig zunächst auf die Straße gegangen? Um Westen zu werden? Nein!“ Der Wunsch nach einer sozialistischen Alternative zum Kapitalismus sei jedoch nicht mit dem Wunsch nach einem Wiederaufleben alter DDR-Verhältnisse gleichzusetzen (Neues Deutschland).
Thomas Kirchner, 1961 im Osten Berlins geboren, war Bühnentechniker und Regieassistent am Maxim-Gorki-Theater – Ort intellektueller Selbstverständigung und poetischer Entrückung. Kirchner kennt das Künstlermilieu der DDR, das in Kruso im Mittelpunkt steht, also aus eigener Erfahrung. Für die Dramatisierung von Uwe Tellkamps Der Turm (2012) erhielt er 2013 den Grimme-Preis. Auch Das Wunder von Berlin (2008) und Schicksalsjahre (2011) stammen aus seiner Feder. Außerdem hat er die Drehbücher für zwölf Spreewaldkrimis geschrieben.
Kruso ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Lutz Seiler aus dem Jahr 2014, der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Dem Romandebüt folgten Theaterfassungen und ein Hörspiel. Der 1963 in Gera geborene Seiler verarbeitete in Kruso autobiographische Inhalte aus seiner Zeit als Saisonhilfskraft auf Hiddensee im Sommer 1989. Wie seine Hauptfigur Ed kam auch er als Hallenser Germanistik-Student ans Meer: „Ich habe eine Weile gebraucht, um zu sehen, dass diese Inselszene der Ausgestiegenen und Ausgestoßenen auf Hiddensee auf ihre Weise historisch einmalig und ein wunderbarer Stoff ist.“ (Das Erste) Seilers literarische und lyrische Prägung resultierte in einem poetischen Roman voller assoziativer Elemente und innerer Monologe, der den Bereich des Realistischen immer wieder durchbricht (Medienkorrespondenz). Demensprechend schwer war es, Kruso dramaturgisch in Szene zu setzen. Seiler findet die Literaturverfilmung trotzdem gelungen: „Der Film musste sich vom Buch lösen. Aber ich meine, es ist ihm gelungen, die Grundintention des Buches umzusetzen, aufzugreifen und weiterzuspinnen.“ (Das Erste)
Kruso ist eine Co-Produktion der Ufa Fiction (Benjamin Benedict und Nico Hofmann) mit dem federführenden MDR (Jana Brandt und Stephanie Dörner) und der ARD Degeto (Claudia Grässel) für Das Erste (ARD-Pressemeldung). Für den mehrfach preisgekrönten Nico Hofmann, 1959 in Heidelberg geboren, ist Kruso eine von vielen Produktionen mit DDR-Bezug – auch Der Tunnel (2001), Der Turm (2012), Bornholmer Straße (2014), Nackt unter Wölfen (2015) und Deutschland 83/86/89 (2015 bis 2020) stammen aus seinem Repertoire. Hofmann sieht in Kruso eine „faszinierende Introspektion in die Welt der oppositionellen Jugendkultur“ (Die Zeit). Für MDR-Fernsehspielchefin Jana Brandt gehört „das filmische Erzählen ostdeutscher Geschichte“ außerdem „zur DNA des Mitteldeutschen Rundfunks“ (Die Zeit)
Finanzierung
Wie viele Geschichtsfilme wurde auch Kruso aus Fernsehetats kofinanziert und außerdem mit 400.000 Euro von der Mitteldeutschen Medienförderung (Förderliste Mitteldeutsche Medienförderung 2017) sowie durch Mittel des Film Tax Incentive Litauen gefördert (ARD-Pressemeldung).
Neben einer Pressemappe und den üblichen Teasern im Vorfeld der Ausstrahlung wurden umfangreiche Extras zum Film auf daserste.de zur Verfügung gestellt. Dazu zählen eine XL-Vorschau, ein Set-Rundgang, ein Making-of und ein 360-Grad-Live-Video von der Probe. Außerdem sind Interviews mit drei Schauspielern (Jonathan Berlin, Albrecht Schuch, Andreas Leupold) sowie mit Regisseur Stuber und Romanautor Seiler („Vom Buch zum Film“) verfügbar. Ein Zeitzeugeninterview mit Christian „Flake“ Florenz, Mitglied der DDR-Punkband Feeling B und Rammstein-Star, rundet die Filmextras ab.
Filminhalt
Handlung
Nach dem Tod seiner Freundin flüchtet der Germanistik-Student Edgar Bendler, genannt Ed, aus Halle auf die Insel Hiddensee im DDR-Grenzgebiet. Nachts rettet ihn Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, am Strand vor den Scheinwerfern und Gewehren der Grenzsoldaten. Nach Eds gescheiterter Republikflucht heuert er als Saisonkraft in der Ausflugsgaststätte „Zum Klausner“ an. Die verschworene Belegschaft setzt sich zusammen aus „Kapitän“ Werner
Krombach, dem klassikverliebten Koch Mike, Küchenhilfe Smutje, den schachspielenden Kellnern Rimbaud und Cavallo, der Empfangschefin Karola, dem Eisverkäufer Rene Sazlach und dessen Frau Mona. Kruso ist am Tag Tellerwäscher und abends Hoffnungsträger, der den „schiffbrüchigen“ Fluchtwilligen und Systemüberdrüssigen in drei Tagen seine Idee von innerer Freiheit nahebringen will, um sie vor dem Tod in der Ostsee zu bewahren: „Freiheit ist in dir, sonst nirgends. Und irgendwann übersteigt die Freiheit in unseren Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse.“
Während Kruso seine Aussteigerkommune mit Rausch und Ritualen, Suppe und Solidarität (tittelbach.tv) auf Kurs hält, tönt aus dem Küchenradio der Deutschlandfunk mit Berichten von massenhaften Ausreisen über Ungarn. Als schließlich Hans-Dietrich Genschers Ansprache in der Prager Botschaft zu hören ist, rastet Kruso aus und schleudert einen Bierkrug in das Radio. Aus der schützenden Arche wird ein sinkendes Schiff, die Mannschaft des Klausners geht nach und nach von Bord und in den Westen.
Während Kruso langsam dem Wahn verfällt, erstarkt Ed. Er kümmert sich um seinen Freund und muss sich gleichzeitig mit Inselkommandant Rebhuhn herumschlagen, den die angeschwemmte Wasserleiche von Rene auf den Plan gerufen hat. Schließlich wird der Klausner kielgeholt, „nach uns die Sintflut“ (Krombach), und einzig Ed bleibt bei Kruso in der nun verlassenen Enklave. Die Gesellschaft verroht zusehends, betrunkene Grenzsoldaten sind plötzlich bar jeder Disziplin und Haltung, und Vandalen schmieren „Scheissland“ an die Wände. Während eines Handgemenges verletzt sich Kruso schwer am Kopf, woraufhin Kommandant Rebhuhn Krusos Vater herbeiruft. Der sowjetische General transportiert seinen Sohn auf einem Boot ab. Die Geschichte von der utopischen Idee eines freiheitlichen Sozialismus, losgelöst von Politik und Staat, endet mit einem Möwen-Flug. Der Sommer ist vorbei, „es kommen kältere Tage“ (Welt).
Zentrale Figuren
Edgar Bendler (Jonathan Berlin), genannt Ed, ist ein Germanistik-Student aus Halle, der nach dem Unfalltod seiner Freundin auf Hiddensee „untertauen, abtauchen, verschwinden“ will. Seine geplante Republikflucht ist Ausdruck posttraumatischer suizidaler Tendenzen: „Es war mir egal, ob sie mich erschossen hätten oder ob ich ertrunken wäre“ (Ed). Ed flieht also weniger vor dem DDR-Staat, sondern vielmehr vor dem Leben selbst. Seine Einstellung zur DDR wird nicht deutlich. Die Freundschaft zwischen Ed und Kruso bildet „das emotionale Zentrum, das Rückgrat des Films“ (Thomas Stuber, Das Erste). Sie helfen sich gegenseitig bei der Bewältigung ihrer persönlichen Traumata: „Die beiden sind tief verbunden durch eine Parallelität im Unglück: Sie haben beide ihre liebsten Menschen verloren.“ (Lutz Seiler, Das Erste)
lexander Krusowitsch (Albrecht Schuch), genannt Kruso, ist der charismatische, tief zerrissene und heimatlose Sohn eines sowjetischen Generals. Die Freundschaft zu Ed ähnelt der von Robinson Crusoe und Freitag. Kruso wurde mit seiner Schwester Sonja im Kleinkindalter nach Hiddensee gebracht. Dort, in der verschworenen Gemeinschaft rund um den Klausner, hat er „seine Rolle, seine Heimat, seine Ersatzfamilie“ gefunden (Albrecht Schuch, Das Erste). Er ist „ein ruhiger Wilder“, empathisch und intensiv, der in Messias-Manier barfuß und in Hippie-Montur seine Anhänger abspaziert „wie ein Guru seine Jünger“ (Süddeutsche Zeitung). In der Inselgemeinschaft nimmt er eine fast anarchistische Position ein und strebt „ein Zusammenleben ohne Politik, ohne Staat, ohne Grenzen“ an (Thomas Stuber, Das Erste). Durch das Ertrinken seiner Schwester fühlt er sich verpflichtet, Fluchtwillige vor dem Tod in der Ostsee zu bewahren und ihnen seine Idee der „inneren Freiheit“ nahezubringen. Er glaubt an die Utopie des Sozialismus als Gegenentwurf zum Kapitalismus. Durch seine Abstammung hat er Einfluss auf die Grenzpolizei, ist jedoch „nicht tabu“ für Inselkommandant Rebhuhn.
Gesellschaftsbild
In Kruso wird ein linksalternatives und hedonistisches Milieu aus jungen Menschen, Intellektuellen und Bürgerrechtlern porträtiert. Die Insel Hiddensee im Großen und der Klausner im Kleinen bilden Nischen, ein „Biotop des ursprünglichen Sozialismus“ (Thomas Stuber, Welt), in dem diese Andersdenkenden fernab vom Staat ihre Idee der inneren Freiheit leben können: „Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne eine Grenze zu überschreiten“ (Kruso, Roman). Ihre Lebensziele bestehen in Selbstverwirklichung, Distanz zur Konsumgesellschaft („dem bunten Firlefanz“), Eigenständigkeit und Ungebundenheit an ideologische Vorgaben. Mit „Nahrung für den Geist“ (Georg Trakl, Günther Grass, Christa Wolf, Kafka, Claude Levi-Strauss, Daniel Defoe), Suppe, Solidarität (tittelbach.tv) und freier Liebe will Kruso die „Schiffbrüchigen“ „reinigen und befreien“. Eskapismus, Akzeptanz und innere Emigration scheinen der einzige Weg zu sein, in der DDR zu überdauern: „Meine Damen und Herren, lautes Rufen, Schnipsen, Winken ändert nicht den Ablauf des Geschehens“ (Krombach).
Ed wird Teil der Gemeinschaft von „Matrosen“ im Klausner. Das stundenlange tränenreiche Zwiebelschneiden und Krusos Einweisung in die Kunst des Abwaschens fungieren dabei als Initiationsritus („Willkommen an Bord!“, Krombach). Harte körperliche Arbeit, Rausch und Rituale bestimmen fortan den Alltag. Selbst der Philosoph Rimbaud („Ruhm, wann kommst du?“) und der Soziologe Cavallo, die sonst kellnernd und schachspielend aus der Weltliteratur zitieren, feiern ausgelassen am Strand. Lagerfeuer, FKK, selbstgebastelter Schmuck und Trinken bis zur Besinnungslosigkeit schweißen den Kult rund um Kruso immer mehr zusammen. Der exzessive Alkoholkonsum gipfelt in der von der Punkband Feeling B erdachten Slamer-Trinkpraktik, bei der Ed auf ein Brett geschnallt und mit einem Alkoholgemisch abgefüllt wird – das alles wird von NVA-Soldaten in Habachtstellung beobachtet.
Trotz gefühlter Freiheit ist „die DDR überall, wo die DDR ist“ (Ed), die ständige Beobachtung durch Grenzsoldaten scheint allerdings niemanden zu stören. Obwohl Kommandant Rebhuhn sich redlich bemüht, Ed einzuschüchtern und zu beeindrucken, wirkt er wie eine läppische Karikatur. Das Misstrauen vor allem gegenüber dem angeblichen „Spitzel“ Ed („Wer sagt uns überhaupt, dass ihn nicht die Stasi geschickt hat?“) wiegt viel schwerer. Die Willkür der Grenzkompanie wird ebenfalls überdeutlich dargestellt: Als eine Wildschweinfamilie um die Insel schwamm, wurden sie erbarmungslos erschossen („Vater, Mutter, Kinder“, Kruso). Die Verhältnisse werden mit (Galgen-)Humor kompensiert: „Meine Damen und Herren, lernen Sie ihn kennen, den Überhandknoten mit Schlinge. Mit dem kann man sich herrlich…erhängen.“
(Krombach)
Freiheit bedeutet in diesem Film für jeden etwas anderes: „Freiheit vom Beruf, Erlösung vom Staat, von der Vergangenheit“ (Kruso). Doch letztlich kann innere Emigration in Kruso kein richtiges Leben im falschen ermöglichen (Quotenmeter), innere Freiheit kann die Ungerechtigkeiten des DDR-Staates nicht aufwiegen: Als die Öffnung der Grenzen eine „greifbare“ Freiheit ermöglicht, lichten sich die Reihen der Aussteiger. Durch ihren Weggang leugnen sie laut
Krombach und Kruso „die Verantwortung, die sie für diesen Ort haben“. Aber die Nische wird eben nicht mehr benötigt. Der verlassene Klausner symbolisiert den Niedergang der DDR. Nur Kruso, dessen Lebensinhalt obsolet geworden ist, will das nicht akzeptieren: „Wenn sie sich ein bisschen ausgetobt haben, dann kommen sie alle wieder.“
Ästhetik und Gestaltung
Die idyllischen Strandszenen und die malerische Kulisse der Insel (Szenenbild: Jörg Baumgarten) werden von den Machern durch einen grau-beigen Kamerafilter und bedrückende, düstere Klaviermusik sowie melancholische Harfenklänge (Musik: Matthias Klein) überlagert – die innere Freiheit wird durch die Unfreiheit der Verhältnisse überlagert. Die Bauten der Stasi sind heruntergekommen, verfallen, dunkel und karg, was das bröckelnde politische System reflektiert. Die Farbe Rot spielt eine wichtige Rolle, so wird Eds versuchte Flucht von den Leuchtraketen der Roten Armee gespenstisch beleuchtet. Nikolai von Greavenitz (Kamera) und Lars Jordan (Schnitt) stellen Körperlichkeit und Sinnlichkeit durch Nahaufnahmen intensiver Blickwechsel und bildliche Metaphern dar („Der Lurch“). Körperliche Arbeit wird immer wieder durch eine Fokussierung auf die Hände symbolisiert. Sparsame Rückblenden zu Eds Freundin Gesine sind ebenfalls sinnlich, körperlich und sexuell.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Es werden verschiedene Strategien angewandt, um die DDR kurz vor der Wende möglichst authentisch erscheinen zu lassen. Requisiten wie senfgelbe Tapeten, blumige Bettwäsche und Antisolan-Sonnencreme fallen sofort auf, aber beim Set-Rundgang weist Andreas Leupold auch auf Kleinigkeiten wie die Original-Lichtschalter hin. Das Gastgewerbe bietet zahlreiche Möglichkeiten, die DDR-typische Küche in den Vordergrund zu stellen: Puszta-Steak, Club-Kola, Kohlrouladen, Bowu (Bockwurst), Soljanka, Letscho und SU-Sekt mit Kirschwhiskey laden DDR-Bürger zum Schwelgen in Erinnerungen ein. Auch DDR-typische Begriffe werden häufig verwendet. Weltliteratur ist hier „echte Bückware“. Musik spielt für die jugendlichen Aussteiger eine große Rolle, das Spektrum reicht vom Arbeiterlied Ich trage eine Fahne, und diese Fahne ist rot über russische Wiegenlieder, das Kaiserlied von Haydn und Quiet World von Alla Sirenko bis hin zu Artig von Feeling B und Bataillon d’Amour von Silly.
Die Gaststätte „Zum Klausner“ am Dornbusch, die für den Film möglichst originalgetreu nachgebaut wurde, sowie das Gerhart-Hauptmann-Haus in Kloster existieren noch (Ostsee-Zeitung). In authentischer Kulisse wurde auch in Halle gedreht, unter anderem Eds Verhör im Stasi-Büro, denn in Halle gebe es laut Produzent Benedict viele Bauten, „bei denen die Gebäudesubstanz einfach passt“, um DDR-Geschichten zu erzählen (Focus).
Die Literaturvorlage zu Kruso ist ein autobiographisches Werk, denn Autor Lutz Seiler war selbst im Sommer 1989 Aushilfskraft im Klausner: „Man braucht diese authentischen Ausgangspunkte, die das Erfinden beglaubigen, bis ins Phantastische hinein“ (Lutz Seiler, Das Erste). Auch Kruso ist einem realen Vorbild nachempfunden, nämlich dem verstorbenen DDR-Underground-Musiker Alexander „Aljoscha“ Rompe, Sänger der Band Feeling B. Mit einem anderen Feeling-B-Mitglied, dem Keyboarder von Rammstein Christian „Flake“ Lorenz, führten die Filmemacher ein Zeitzeugen-Interview:
Kurz nach der Gründung von Feeling B (1983, Anm.) sind wir alle zusammen nach Hiddensee gefahren. Man hatte nicht den Eindruck, dass Hiddensee noch ein Teil der DDR war, weil die gesamten Regierungs- und Verwaltungsdinger waren außer Kraft gesetzt, weil das nicht wichtig war. Der Klausner war der nächste soziale Ort von unserem Schlafplatz aus. Da haben wir den ganzen Tag verbracht. Unsere Ohrringe wurden uns praktisch aus den Händen gerissen, denn Modeschmuck war in der DDR praktisch nicht existent. (…) Das war wie ein riesig großer Freundeskreis, der sich ständig erweitert hat. Wir haben ständig am Strand Musik gemacht. (…) Das war eigentlich die schönste Zeit meines Lebens. (Christian „Flake“ Lorenz, Das Erste)
In einem anderen Zeitzeugeninterview legitimiert die heutige Klausner-Besitzerin Ramona Siegel, die zur Wendezeit am Tresen arbeitete, die Darstellung des exzessiven Alkoholkonsums: „So mancher Tag wurde mit einem Schöppchen begonnen, um den Tag zu überstehen und den Frust zu ertragen.“ Auch das eskapistische Verhalten der Post-Hippie-Kultur sei realitätsnah: „Die Menschen waren ausgelassener, freier und nicht so spröde.“ (B. Z. Berlin)
Die Handlung von Kruso wird von einigen Beteiligten auf heutige gesellschaftliche Missstände übertragen, so erwähnen sowohl Jonathan Berlin als auch Lutz Seiler den aktuellen Kontext der oft tödlichen Mittelmeerfluchten, die denen der DDR-Bürger über die Ostsee nach Dänemark ähneln. Lutz Seiler sieht im Rückzugsort Hiddensee eine fiktive, allgemeingültige Utopie, die auch heute noch Andersdenkende anziehen würde: „Auch die heutigen Formen der Vereinnahmung provozieren Widerstand, Rückzugsgelüste, Abkopplungen und neue Formen des Exterritorialen, das muss keine Insel sein.“ (Das Erste)
Rezeption
Reichweite
Kruso erreichte am Ausstrahlungstag (26. September 2018, 20.15 Uhr in der ARD) lediglich mittelmäßige Zuschauerzahlen (3,27 Millionen) und errang mit 11,2 Prozent Marktanteil nicht den Quotensieg des Tages (Merkur). Zuvor war Kruso bereits auf dem Filmfest München am 30. Juni 2018 gezeigt worden. Im Rahmen der Online-first-Strategie der ARD war der Film außerdem bereits vorab in der Mediathek verfügbar. Kruso ist als DVD erhältlich und auf Amazon Prime Video.
Rezensionen
Die Reaktionen der Presse auf Kruso fielen gemischt aus. Viele beschreiben den Film als „eigentümlich“ (Spiegel), „ungewohnt“ (Medienkorrespondenz[GD1] ) und „irritierend“ (Frankfurter Rundschau). Ein Stein des Anstoßes ist neben der Tonqualität die Aussprache der Protagonisten (Merkur). Viele Kritiker loben dagegen die „faszinierenden literarischen Subtexte“ und den „poetischen Realismus“ (tittelbach.tv), wodurch eine „metaphernreiche Allegorie um den Freiheitsbegriff“ (Neues Deutschland) geschaffen werde. Für andere ist die unterschwellige Poetik allerdings zu viel des Guten: die „Abwaschschlacht mit Lyrik“ (Tagesspiegel) sei „klischeehaft“ (Deutschlandfunk Kultur).
Nur wenige vertreten die Ansicht, dass in Kruso die „Schäbigkeit des sozialistischen DDR-Alltags“ und die „Beklemmungen von Dauerüberwachung und Eingesperrtsein“ im Vordergrund stehen, während sich die Jugend „ein Fleckchen Freiheit im großen DDR-Gefängnis“ herbeifantasiere (Süddeutsche Zeitung). Für diese Minderheit geht der Film nicht hart genug mit dem DDR-Staat ins Gericht, denn „der Stasi-Mann“ erscheine „als harmlose Karikatur eine Beamtenarschs, der nur sein armseliges Bisschen Macht auskosten will“ (taz). Die Mehrheit der Kritiker findet allerdings ganz im Gegenteil, dass „dem politischen Machtapparat wenig Platz eingeräumt wird“ (tittelbach.tv) und sich die Macher „angenehm mit Hintergrunderklärungen zurückhalten“ (Filmdienst). Eine „vermeintliche Fußnote der Geschichte“ werde in Kruso zu einem politphilosophischen Diskurs entwickelt (tittelbach.tv), das dargestellte Milieu komme dem Zuschauer nahe „bis zu Erschütterung“ (Spiegel). In Kruso werde ein „würdevolleres Bild von der DDR vermittelt als in vielen emotionalen ,Wir-sind-das-Volk‘-Dramen, die sich vornehmlich an der Stasi-Vergangenheit abarbeiten“ (tittelbach.tv).
Sie ist sanft, die Stimme. Der Abend lau. Die Sterne hängen hell über Hiddensee. Bücher gehen herum. Es wird philosophiert. Die Frauen sind freigiebig. Die Männer sind sich nah. Groß scheint die Freiheit. Und die Verhältnisse sind weit weg. (...) Dass so etwas Leises möglich ist im deutschen Fernsehen, wundert man sich. Ein Film von einer seltenen, seltsamen Menschlichkeit. Vielleicht das Schönste, was man in diesem Herbst schauen kann. (Welt)
Besonders ostdeutsche und Fachmedien heben die „präzise Darstellung von Arbeitswelten“ hervor (epd Film), die „im deutschen Film sträflich vernachlässigt“ würden (Neues Deutschland). Außerdem fange der Film die „bleierne Atmosphäre“ des Jahres 1989 gut ein, als die DDR-Bürger ihre „Hoffnungen auf Reformen im Land aufgegeben“ hatten (Neues Deutschland). Andere finden die Darstellung des „zaghaften“ und erst „im Nachhinein tapferen DDR-Bürgers“ nach „jahrelanger Gängelung und Repression“ (Die Zeit) und die Gegenüberstellung „fieser Staat“ versus „widerborstige Bürger“ (Deutschlandfunk Kultur) klischeehaft. Kruso sei „nichts anderes als Der Turm auf Hiddensee oder Weissensee auf einer Insel“ (Deutschlandfunk Kultur). Die Literaturverfilmung interessiere sich nicht wirklich für die oppositionelle Jugendkultur der DDR (Die Zeit) und schon gar nicht für die Romanvorlage, die man fürs Fernsehen mehr schlecht als recht „gerafft und umgearbeitet“ habe (Frankfurter Rundschau).
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Auszeichnungen
Albrecht Schuch erhielt beim Deutschen Fernsehpreis 2019 die Auszeichnung „Bester Schauspieler“ für seine Rollen in Kruso und Der Polizist und das Mädchen (2018).
Erinnerungsdiskurs
In Kruso lassen sich vier narrative Bedeutungsmuster identifizieren, die auch andere filmische Aufarbeitungen der DDR verwenden.
Erstens herrscht in der Inselkommune eine politisch entschärfte Mitmenschlichkeit, die jungen Menschen ziehen innere Emigration dem aktiven Widerstand vor.
Zweitens wird der Sozialismus, entkleidet vom Realpolitischen, dem verderblichen Einfluss des Kapitalismus mit seinem „bunten Firlefanz“ vorgezogen. Auf dieser Basis lässt sich Kruso als Erinnerungsort zunächst im Arrangementgedächtnis verorten, es wird also vorwiegend die alltägliche Selbstbehauptung der kapitalismusskeptischen DDR-Bürger unter widrigen Umständen dargestellt.
Das dritte und deutlichste Bedeutungsmuster ist das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen als Teil der sozialistischen Volksgemeinschaft. Die Freiheit bestehe „in erster Linie aus Pflichten“. Wer den Klausner verlasse, leugne „seine Verantwortung für diesen Ort“, und die Ärztin bricht ihren hippokratischen Eid, indem sie in den Westen geht. Trotzdem sind die meisten der Ansicht, die Freiheit des Menschen liege nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will (frei nach Rousseau).
In der DDR bleiben wollen die Menschen in Kruso auf keinen Fall. So leistet der Film auch einen Beitrag zum Diktaturgedächtnis – zum einen durch das vierte narrative Bedeutungsmuster der ständigen Angst vor Spionage und Infiltration („Spitzel“ Ed) sowie die gefühlskalten, omnipräsenten Grenzsoldaten, zum anderen durch die Deutschlandfunk-Beiträge aus dem Küchenradio: „Auf der österreichischen Seite gab es bei Bedarf einen Imbiss, medizinische Hilfe, Kleidung und Benzingeld vom Roten Kreuz.“
Kruso beleuchtet als einer unter wenigen Filmen den Sonderstatus von Nischen und Rückzugsorten in der DDR, in denen linksalternative intellektuelle Ausseiger repressionsfrei leben konnten, ohne ihren Glauben an eine Utopie des Sozialismus aufgeben zu müssen. Das Ausbluten der Hiddensee-Gemeinschaft lässt sich nicht durch Adornos These erklären, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Denn ironischerweise hören diese Nischen des „richtigen“, freiheitlichen Lebens unter Gleichgesinnten zusammen mit der DDR auf zu existieren – weil sie in der neuen Freiheit des Kapitalismus nicht mehr gebraucht werden. Die Insel Hiddensee steht für den bröckelnden Sozialismus: „Die Strömungsverhältnisse der Ostsee bewirken das langsame Abbrechen und Abdriften der Küste. Also wird sich auch der Klausner, unsere Arche, irgendwann auf den Weg machen“ (Krombach). Als die DDR schließlich zusammenbricht, verliert Krusos zentrale Prämisse („Irgendwann übersteigt die Freiheit in unseren Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse“) ihre Grundlage, er selbst seine Jünger, seinen Lebensinhalt und zuletzt seinen Verstand.
Empfehlung
Empfehlung der Autorin
Für Freunde des französischen Films bietet Kruso durch seine atmosphärische Sinnlichkeit einen eindrücklichen Zugang zum intellektuellen Aussteigermilieu der DDR. Mit der Sprachgewalt und den assoziativen Elementen der Romanvorlage kann der Film allerdings nicht mithalten. Die Macher setzen auf die Macht des Augenblicks und verzichten auf den Aufbau eines Spannungsbogens, aber nicht auf Schwarz-Weiß-Darstellungen des repressiven Staatsapparates und der trotzig-tapferen DDR-Bürger.
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