Sonnenallee
Inhalt
- Kurzinformationen
- Filmdaten
- Kurzbeschreibung
- Schlagworte
- Entstehungskontext
- Beteiligte
- Filminhalt
- Handlung
- Figuren
- Gesellschaftsbild
- Ästhetik und Gestaltung
- Strategien der Authentizitätskonstruktion
- Rezeption
- Reichweite
- Rezensionen
- Auszeichnungen
- Wissenschaftliche Aufarbeitung
- Einordnung in den Erinnerungsdiskurs
-
Empfehlung der Autorin
- Literatur
Entstehungskontext
Beteiligte
Der 1959 in Quedlinburg geborene und in Berlin aufgewachsene Theaterregisseur und Schauspieler Leander Haußmann feierte mit diesem Film seinen Durchbruch im vereinigten Deutschland. Er ist Absolvent der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin und hat sowohl an DDR-Theatern gespielt als auch in DEFA-Filmen. Sein Vater Eduard Haußmann war ein Schauspiel-Star. Marianne Wellershoff vom Spiegel sagte er: „Ich habe meine schönsten Jahre in der DDR verlebt“. Im Magazin MAGDA beklagte er, dass heute ein negatives Bild der DDR vorherrsche. Er habe das anders erlebt, obwohl er selbst einen Ausreiseantrag gestellt habe. In der DDR sei sehr viel gemeckert worden. Es habe nicht nur die Stasi und die Verfolgten gegeben, sondern auch die 90 Prozent dazwischen, sozusagen eine Parallelwelt, die schwer rübergebracht werden könne. Von Haußmann gibt es eine Autobiografie („Buh“) mit „Theaterabenteuern in der tiefsten DDR-Provinz, kuriosen Stasi-Überfällen und rekordverdächtigen Alkoholexzessen, einer Druckerlehre mit gefährlichen Druckmaschinen, der missglückten Ehe der Großmutter mit Hermann Hesse, Ausreiseanträgen und dem Mauerfall“. Max Florian Kühlem schrieb in der Rheinischen Post, dass dieses Buch ein vielfaches Scheitern beschreibe. Neben Sonnenallee steht Haußmann für weitere Filme mit DDR-Thematik: Herr Lehmann (2003), NVA (2005) und Stasikomödie (2022).
Schriftsteller und Drehbuchautor Thomas Brussig wurde 1964 in Berlin geboren. Nach einer Ausbildung zum Baufacharbeiter, dem Grundwehrdienst und einem abgebrochenen Soziologie-Studium studierte er ab 1993 an der Filmhochschule Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg (2000: Diplom-Film- und Fernsehdramaturg). Der Schriftsteller verarbeitet die DDR satirisch. Er gilt als Wegbereiter der literarischen Vergangenheitsbewältigung und als Vertreter der „Wende-Literatur“ (KinderundJugendmedien.de). Brussig erzählte in einem Spiegel-Interview mit Volker Hage, dass „im Sonnenallee-Stoff etwas Krampflösendes liegt, das über das Buch hinausgeht: ein Friedensangebot an die DDR-Vergangenheit“. Die DDR sei für ihn nicht mehr präsent, aber er beschäftige sich andauernd damit, mehr als er vielleicht möchte.
Das Buch Am kürzeren Ende der Sonnenallee von Thomas Brussig erschien 1999, ist aber keine Vorlage, sondern entstand aus dem Drehbuch. Wie Thomas Brussig Volker Hage vom Spiegel verriet, kam ihm die Idee bereits 1992/93. Er habe das sofort als Film gesehen – mit der Mauer als Leitmotiv. Er sei damit dann zu Leander Haußmann gegangen. Für das Drehbuch bekam Brussig den deutschen Drehbuchpreis. Claus-Ulrich Bielefeld (1999) hat das Buch in der Süddeutschen Zeitung als „unterhaltsame Sittengeschichte der DDR“ bezeichnet, bei der man „so klar wie selten“ begreife, „warum dieses Land untergehen musste“. Ab und zu bestehe zwar eine „Tendenz zur nostalgischen Verklärung“, das werde aber durch den „Sinn für Slapstick-Humor und bizarre Situationen“ aufgefangen. Die „Typen“ seien „scharf umrissen, die Geschichten effektvoll gegeneinander geschnitten“ und die DDR werde „zum Abenteuerspielplatz“, auf dem sich „vertrottelte Alte und pfiffige Junge zupfen, kneifen und necken“. Gunnar Decker fand das Buch im Neuen Deutschland sogar „nuancenreicher“ als den Film.
Der Film wurde von der Boje Buck Produktion in Koproduktion mit der Ö-Filmproduktion Löprich & Schlösser und Sat.1 produziert. Die Boje Buck Produktion wurde 1991 von Detlev Buck (Jahrgang 1962) Claus Boje (Jahrgang 1958) gegründet. „Die Boje Buck Produktion steht für ausgesuchte Stoffe, die sich mit gesellschaftlich relevanten Themen und Strömungen auseinandersetzen“. Über Sonnenallee sagte Detlev Buck zu Jochen Wegner von der Zeit, dass ihn der Film an zu Hause erinnert und an diesen „Stolz auf die Provinz“. Sonnenallee sei der erste „Film mit normalen Geschichten aus der DDR“. Boje & Buck haben auch NVA (2005) mit Leander Haußmann Regie und Thomas Brussig produziert.
Die Produktion wurde vom Filmboard Berlin Brandenburg mit umgerechnet 1,2 Millionen Euro und vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien mit rund 485.000 Euro gefördert. Für die Vertriebsförderung gab es etwa 127.000 Euro von der Filmförderungsanstalt (FFA).
Der Kinostart wurde auf den 50. Geburtstag der DDR gelegt. Der Delphi Filmverleih veröffentliche einen Trailer. Außerdem gibt es einen Soundtrack, der in vier Teile unterteilt ist: „Sonnenallee West“ mit Musik aus dem Westen, „Sonnenallee Ost“ mit DDR-Musik, „Sonnenallee von West nach Ost“ mit starken Texten und „Sonnenallee Goodbye...“ mit ruhiger Musik. Bonusmaterial ist auf der DVD zu sehen. FILMERNST gab pädagogisches Begleitmaterial heraus, mit dem die Schülerinnen und Schüler die Frage beantworten sollen, „ob Komödien wie Leander Haußmanns Sonnenallee zur Verharmlosung der SED-Diktatur beitragen“.
Filminhalt
Handlung
Die Mauerkomödie Sonnenallee spielt in den 1970er Jahren und erzählt vom 17-jährigen Michael „Micha“ Ehrenreich und seinen Freunden in der gleichnamigen Straße, die es im Westen und im Osten gibt. Die Jugendlichen stehen kurz vor dem Abitur, treffen sich unter den wachsamen Augen des Abschnittsbevollmächtigten (ABV) und hören West-Musik, besonders die Rolling Stones, die es Wuschel, einem Freund von Micha, so angetan haben, dass er sich für ihr neuestes Album in Gefahr bringt. Außerdem müssen sich die Jungs entscheiden, ob sie für drei Jahre zur NVA gehen, um studieren zu können. Politik ist Micha eigentlich egal – für ihn und seinen Kumpel Mario spielen Mädchen eine große Rolle. Micha ist verliebt in die hübsche, begehrte und unerreichbare Miriam, die ihn nicht beachtet und lieber einen Jungen aus dem Westen küsst. Micha buhlt mit allen Mitteln um ihre Aufmerksamkeit. Er verfasst Tagebücher, in denen er eine ablehnende Haltung gegenüber der DDR erfindet. Mario lernt inzwischen die Existentialistin Sabrina kennen. Außerdem kommt Michas Onkel Heinz aus West-Berlin zu Besuch und klagt, dass in der DDR alles mit Asbest verseucht sei. Michas Mutter plant einen Fluchtversuch. Sie bleibt dann doch, und der Onkel stirbt in der DDR. Mario geht zur Armee und heiratet Sabrina. Micha hat Erfolg bei Miriam.
Zentrale Figuren
Michael „Micha“ Ehrenreich (Alexander Scheer) – der 17-jährige Schüler macht sich nichts aus Politik und will Popstar werden, denn er mag die Musik aus dem Westen. Ihm geht es nicht schlecht in der DDR. Micha liebt die schöne Miriam, die für ihn allerdings unerreichbar scheint, und verhält sich in ihrer Gegenwart sehr tollpatschig. Er will in Moskau studieren und überlegt deshalb, länger zur Armee zu gehen, obwohl er die NVA eigentlich nicht mag. Das merkt er, als er für Miriam Tagebücher schreibt. Was er dort gegen die DDR ins Feld führt, wird immer mehr zur Realität.
Mario (Alexander Beyer) – Freund von Micha und ebenfalls Schüler versteht sich als Oppositioneller und will mit der Clique eine Widerstandgruppe gründen. In der Schule macht er sich über die Partei lustig. Er lernt die ExistentialistinSabrina kennen, die von ihm schwanger wird. Dadurch sieht sich Mario gezwungen, zur Armee zu gehen, obwohl er den Wehrdienst eigentlich verweigern wollte. Von der Schule fliegt er, weil er mit Micha von einem Balkon auf den antifaschistischen Schutzwall uriniert hat.
Wuschel (Robert Stadlober) – Schüler und Freund von Micha und Mario. Hat nur Rock- und Popmusik aus dem Westen im Sinn. Er ist Fan der Rolling Stones und versucht, das Doppelalbum Exile on Main Street (1972) auf dem Schwarzmarkt zu erwerben. Als er die Platte durch einen glücklichen Zufall endlich kaufen kann, gerät er in einen Grenzalarm und versucht zu fliehen. Dabei wird er angeschossen, doch die Platte rettet ihm das Leben. Dass diese dabei zerstört wird, bricht ihm fast das Herz.
Miriam Sommer (Teresa Weißbach) – sagenhafte, anbetungswürdige, aber (scheinbar) unerreichbare Schulschönheit. Sie steht nicht hinter dem Prinzip DDR, sondern träumt vom Westen. Provoziert, indem sie in aller Öffentlichkeit einen aus dem Westen küsst, und flunkert bei ihrer Rede bei der FDJ-Wahl. Anfangs findet sie Micha komisch, als er ihr jedoch in den Tagebüchern seine angebliche Abneigung gegenüber der DDR offenbart, erobert er ihr Herz.
Doris Ehrenreich (Katharina Thalbach) – Michas Mutter ist vorsichtig und ängstlich. Will systemtreu wirken, obwohl sie den Staat nicht befürwortet. Sie gaukelt dem Nachbarn, einem vermeintlichen Stasi-Spitzel, und dem ABV vor, dass ihre Familie parteitreu sei und weist immer wieder ihren Mann zurecht, nicht so über die DDR zu schimpfen. Als sie einen Westpass findet, will sie zuerst fliehen, dreht dann aber doch am Grenzübergang um.
Onkel Heinz (Ignaz Kirchner) – wohnt in West-Berlin, besucht Familie Ehrenreich mehrmals die Woche und bringt Waren mit – beispielsweise eine Nylonstrumpfhose für die Mutter. Er denkt, dass es in der DDR nichts zu kaufen gibt und weist bei jedem Besuch auf Asbest in den Wänden hin. Am Ende stirbt der Onkel, der Raucher ist, an Lungenkrebs, vor dem im Westen alle Angst haben.
(Politische) Institutionen
Die Stasi wird nur beiläufig erwähnt. Jeder könnte ein Spitzel sein. Die Ehrenreichs vermuten, dass der Nachbar dazugehört, weil er ein Telefon hat und so Berichte weiterleiten könnte. Die Uniformierten werden von der Gesellschaft kritisch gesehen. Die Armee kontrolliert die Grenze und der ABV die Straßen und Bewohner. Die Jugendlichen möchten den Wehrdienst am liebsten verweigern, sehen aber, dass er das Tor zu einem besseren Leben sein kann. Die Schule soll aus jungen Menschen systemtreue Bürger machen und agiert im Sinne der Partei. Dazu gehören Strafarbeiten für Fehlverhalten.
Gesellschaftsbild
In Sonnenallee geht es den Bürgern der DDR nicht so schlecht, wie der Westen denkt. Viele Bewohner leben ihren Alltag am System vorbei und spielen den parteitreuen Bürger allenfalls. Man täuscht sogar Krankheiten vor, um ein Telefon zu bekommen. Die Beziehung zwischen Staat und Bürgern ist von Misstrauen geprägt. So löst ein Stromausfall gleich einen Grenzalarm aus. Der Staat greift auch in das Privatleben ein: Der ABV kontrolliert das Verhalten und kommt in die Wohnungen. Die Menschen haben außerdem Angst vor Spitzeln. Personenkontrollen auf der Straße sind üblich. Selbst Personen, die der ABV kennt, müssen sich ausweisen. Westliche Musik ist verboten und wird konfisziert. Beamte werden sogar degradiert, wenn sie verbotene Musik spielen. Trotzdem greifen sie bei einer wilden Party mit lauter Musik und Drogen nicht ein. Die Grenztruppe lässt die Menschen am Schlagbaum tanzen und tanzt teilweise sogar mit.
Die Bürger sind nur heimlich gegen die DDR, auch wenn ihnen das (so wie Micha) nicht immer von Anfang an bewusst ist. Sie meckern über den Staat, wenn auch nicht laut. Vor allem die Älteren versuchen zumindest nach außen, sich zu integrieren. Die meisten interessieren sich sehr für den Westen – für das Westfernsehen, für die Rock- und Popmusik oder für die Jungs von drüben. Trotzdem wollen sie auch ein gutes Leben und Sicherheit (die Älteren) oder Spaß (die Jugendlichen).
Ästhetik und Gestaltung
Michael Ehrenreich stellt als Erzähler Personen und DDR vor. Er beendet den Film auch so – mit einem Rückblick auf sein Leben in der DDR. Im Film ist dieses Land so bunt wie in der Erinnerung ihrer Bürger. Nur als Micha und Mario den Insassen eines Reisebusses aus dem Westen ihr Hungerleiden vorspielen, wird das Bild schwarz-weiß. Bei einer Warteszene an einer Ampel kommt kein Auto, aber dafür Steppenläufer (die trockenen Büsche, die man aus den Western-Filmen kennt). Natürlich: Im Osten war nichts los. Nach dem Tanz an der Mauer wird das Bild ebenfalls schwarz-weiß – symbolisch für das Ende der DDR (und der glücklichen Kindheit). Dazu läuft der DDR-Hit Du hast den Farbfilm vergessen (1974) von Nina Hagen. Dort lautet eine Zeile „Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön's hier war“.
Authentizität
Strategien der Authentizitätskonstruktion
Die Komödie erzählt eine fiktive Geschichte. Sie will auch nicht zwingend authentisch sein, denn sie „versucht nicht zu schildern, wie die DDR war, sondern erzählt, wie sie gern erinnert wird“, sagte Thomas Brussig im Spiegel. Es gibt trotzdem Original-Requisiten wie einen Mufuti (Multifunktionstisch), die Ampelmännchen, eine Minetta oder Club Cola. Auch die Kleidung passt in die Zeit. Leander Haußmann sagte dem Spiegel, dass die Requisiten "mit missionarischem Eifer" gesucht wurden. Die Schauplätze wurden originalgetreu nachgebaut. In Potsdam-Babelsberg entstand ein Stück DDR – eine Mauer mit Sperren und Wachtürmen (Frankfurter Allgemeine Zeitung), ein Kinderspielplatz, ein Gemüseladen und ein Zeitungskiosk (MDR).
Die Vorbereitung dauerte fast drei Jahre – offenbar ohne historische Berater oder Zeitzeugen. Ausnahme war ein "Mauerberater", ein Stasi-Offizier, der dem Regisseur und dem Drehbuchautor allerdings keine neuen Erkenntnisse geben konnte, wie Haußmann in einem Interview sagte. In einem weiteren Interview verrieten die beiden, dass sie in das Drehbuch ihre persönlichen Erfahrungen haben einfließen lassen. Die Besetzung besteht hauptsächlich aus Ostdeutschen, darunter Alexander Scheer, Alexander Beyer, Teresa Weißbach, Katharina Thalbach und Henry Hübchen.
Rezeption
Reichweite
Die Uraufführung von Sonnenallee fand am 7. Oktober 1999 in Berlin statt. Zeitgleich kam der Film bundesweit in 248 Kinos, wo ihn bis 2003 über 2,6 Millionen Menschen sahen (Filmförderungsanstalt, InsideKino). Haußmanns Film kam so auf Platz 15 der deutschen Kinocharts 1999. Auf DVD erschien der Film zuerst in gekürzter Version. Die Langfassung ist seit 2012 auf DVD und die Blu-ray, in der Kinofassung seit 2015 erhältlich. Der Film ist auch auf Streaming-Plattformen verfügbar.
Rezensionen
Es gab viele positive Pressestimmen zu Sonnenallee. Marianne Wellershoff schrieb im Spiegel: „Haußmanns Kunststück besteht darin, zehn Jahre nach dem Mauerfall nicht noch mal mit einer Jammer-Arie über den Unrechtsstaat DDR zu langweilen, sondern sich Zeit und Herz zu nehmen für die Schilderung einiger ganz gewöhnlicher Jung-Ossis“. Es sei eine Stärke des Films, dass er statt Regimekritik ein „Pop-Märchen über das Leben Ost-Berliner Jugendlicher in den siebziger Jahren“ biete. Christiane Kühl (Die Tageszeitung) sprach von einem Erinnerungsfilm und von einem Farbfilm, in dem die DDR leuchte und nicht grau sei. Gunnar Decker lobte im Neuen Deutschland, dass der Regisseur es schaffe, „Unterhaltung und – eine sehr gegenwärtige – Provokation zusammenzubringen“. Dazu komme die „Präzision im Detail“ und eine „Allegorie auf den DDR-Alltag“.
Allerdings wurde der Film auch scharf kritisiert. Hans Günther Pflaum (1999) meinte in der Süddeutschen Zeitung, dass Sonnenallee die DDR als „eine einzige, ebenso böse wie lächerliche deutsche Lachnummer“ zeige, obwohl der Schauplatz „eher symbolisch“ zu verstehen sei – „als Nische im Schatten der Grenze“. Jörg Thomann schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass das Ziel des Filmes nicht Aufarbeitung, sondern Verklärung sei. Christiane Peitz kritisierte in der Zeit, der Film sei ein „Märchen im versöhnlichen Tonfall der Ostalgie, mit spöttischen Dissonanzen gewürzt“. Außerdem seien die Protagonisten „unerwachsene Menschen, die wie alle unerwachsenen Menschen an Mickrigkeit und Größenwahn leiden“. Regisseur Leander Haußmann scheine „das Filmemachen selbst für eine kindisch-pubertäre Angelegenheit zu halten“. Der Film sei zum einen harmloser Spaß und zum anderen auch eine Burleske.
Der Verein Help e.V., eine Hilfsorganisation für die Opfer von politischer Gewalt, ging sogar soweit, Leander Haußmann wegen „Beleidigung der Maueropfer“ zu verklagen (Tagesspiegel, WELT). Die Filmemacher wiesen die Vorwürfe zurück. Thomas Brussig sprach in einem Offenen Brief an den Verein von „lächerlichen Anzeigen mit noch lächerlicheren Begründungen“ (Tagesspiegel). Für Haußmann war die Anzeige „banal und durch nichts zu halten“ (SPIEGEL). Die Hilfsorganisation hat ihre Strafanzeige später zurückgezogen (DIE WELT).
Auszeichnungen
Preis |
Kategorie |
Jahr |
„Bester Spielfilm“ (Silber) |
2000 |
|
„Szenenbild“ (Gold) |
2000 |
|
Bogey |
Bronze |
1999 |
Jupiter |
„Bester deutscher Film“ |
2000 |
|
|
|
Certificate of Excellence beim Williamsburg Brooklyn Film Festival |
Bester Regisseur“ |
2000 |
„Bester Spielfilm“ |
2001 |
Wissenschaftliche Aufarbeitung
Sonnenallee wird in zahlreichen wissenschaftlichen Aufsätzen diskutiert. Der Film wird als Start einer Ostalgiewelle gesehen (Ziegengeist 2011, Lüdeker 2012, 2015) und oft in einem Atemzug mit Filmen wie Good Bye, Lenin! (2003) und Das Leben der Anderen (2006) genannt, die das filmische DDR-Gedächtnis bis heute prägen. Eine weitere Perspektive ist der Vergleich mit Ostalgie-Filmen wie NVA (2005) (Ziegengeist 2011, Lüdeker 2012, 2015). Juliane Ziegengeist (2011: 143) meint, dass Sonnenallee nicht nur Ostdeutsche anspricht, sondern auch Westdeutschen hilft, ein „besseres Verständnis für das Leben in der DDR, für die partiell traumatisierenden Wendeerfahrungen ihrer Bürger und das Bedürfnis der Erinnerung zu nähren“. Paul Cooke (2003: 156) schreibt, dass „der Film bewusst die konkurrierenden Spannungen hervorhebt, die innerhalb der zeitgenössischen Nostalgie für die Ostdeutschen am Werk sind“. Durch eine Komödie wie Sonnenallee können die Rezipienten neue Strategien für den Umgang mit ihrer Geschichte entwickeln (Tsiavou 2016). „Spielfilme wie Sonnenallee […] tragen […] trotz oder auch wegen ihrer historischen Klischeebildung und narrativen Komplexitätsreduktion stärker und nachhaltiger zur Verortung der DDR im kollektiven Gedächtnis bei als jede andere Form der Vergangenheitsvergegenwärtigung“ (Sabrow 2009: 14). Allerdings wird oft kritisiert, dass es sich um eine Verklärung der Geschichte handle (Orth 2010, Lüdeker 2015). Der Film mache sich mittels „überzeichneter Klischees über das Ost-West-Verhältnis“ lustig (Orth 2010: 91).
Erinnerungsdiskurs
Die Ostalgie-Komödie „versucht nicht zu schildern, wie die DDR war, sondern erzählt, wie sie gern erinnert wird“, sagte Thomas Brussig im Spiegel. Sonnenallee zeigt eine DDR, die nicht so schlimm ist, wie der hegemoniale Diktaturdiskurs glaubt. Der Staat verbietet den Menschen zwar viel (Westmusik oder Westkontakte), aber den meisten geht es relativ gut. Es gibt keine Obdachlosen und keiner muss hungern, da die Grundnahrungsmittel günstig und die Preise stabil sind. Dazu kommt der Zusammenhalt in der Familie und im Freundeskreis. Diese Film-DDR ist sehr bunt und die Jugendlichen haben Spaß. Micha: „Es war die schönste Zeit meines Lebens“. Die Erinnerungen können auch von den Schattenseiten des Systems nicht zerstört werden. Der Film „besticht durch die glückliche Synthese von Allegorie auf den DDR-Alltag und Präzision im Detail“ (Neues Deutschland). Sonnenallee erschien zehn Jahre nach dem Mauerfall, am 50. Geburtstag der DDR. „Der Film ist der Startschuss für das Genre der Ostalgie-Komödie“ (Orth 2010: 93) und hat seitdem einen zentralen Platz im deutschen Filmgedächtnis.
Empfehlung
Empfehlung der Autorin
Sonnenallee ist ein sehr unterhaltsamer Film, der den Alltag von einigen Jugendlichen in der DDR auf humorvolle Art und Weise schildert. Die Ostalgie-Komödie zeigt originelle Figuren, achtet auf Details und lässt schöne Erinnerungen aufleben. Wer keine Lust auf Unrechtsstaat hat und sich eher für die positiven Seiten des Lebens interessiert, ist hier genau richtig.
Literatur
Claus-Ulrich Bielefeld: Die Mauer – eine Sittengeschichte. Thomas Brussigs zweiter Roman. In: Süddeutsche Zeitung vom 4. September 1999, Literaturbeilage, S. 5
Paul Cooke: Performing ‘Ostalgie’: Leander Haussmann's Sonnenallee. In: German Life and Letters 56. Jg. (2003), S. 156-167
Gerhard Jens Lüdeker: DDR-Erinnerung in gegenwärtigen deutschen Spielfilmen: Vom Dissens zum Konsens. In: Hans-Joachim Veen (Hrsg.): Das Bild der DDR in Literatur, Film und Internet. Wien: Böhlau 2015, S. 59-80
Gerhard Jens Lüdeker: Kollektive Erinnerung und nationale Identität. Nationalsozialismus, DDR und Wiedervereinigung im deutschen Spielfilm nach 1989. München: Edition Text + Kritik 2012
Dominik Orth: Der Blick über die Mauer in Leander Haußmanns Sonnenallee. In: Gerhard Jens Lüdeker, Dominik Orth (Hrsg.): Mauerblicke. Die DDR im Spielfilm. Bremen: Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien 2010, S. 91-96
Hans Günther Pflaum: Im Gehege der Pubertät. Die DDR – eine Lachnummer: Leander Haußmanns „Sonnenallee. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. Oktober 1999, S. 18.
Martin Sabrow: Die DDR erinnern. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München: C.H. Beck 2009, S. 11-27
Evangelia Tsiavou: Bewältigung der „Ostalgie“ am Beispiel des Wendefilms Sonnenallee (Haußmann, 1999). In: Nausivios Chora 6. Jg. (2016), S. 65-71
Juliane Ziegengeist: DDR-(N)Ostalgie in deutschen Nachwende-Spielfilmen von 1990 bis 2006. Zwischen Kritik und Kult. In: Jahrbuch Für Kommunikationsgeschichte 13. Jg. (2011), S. 119-153
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